"Wir waren jung und wollten das vorantreiben"
Die Graf Recke Stiftung wird dieses Jahr 200 Jahre alt. Auch die Sozialpsychiatrie in der Graf Recke Stiftung begeht ein Jubiläum: Vor 35 Jahren eröffnete das erste Wohnheim für "psychisch Behinderte" in Düsseldorf. Der neue Geschäftsbereich startete klein, aber hochengagiert. Zwei langjährige Mitarbeitende und ein Blick in den "Düsselthaler Gruß" geben einen Eindruck davon.
Alles begann mit "der Umwandlung unseres Jungenheims Alt-Düsselthal in ein Wohnheim für psychisch Behinderte", wie der "Düsselthaler Gruß für Mitarbeiter und Freunde", ein Vorläufer der recke:in, in seiner Ausgabe 1/1987 meldete. Martin Stötzel kann aus eigener Anschauung davon berichten. Er war ein Mitarbeiter der ersten Stunde. Heute im Wohnhaus an der Wilhelm-Tell-Straße in Düsseldorf tätig, erinnert er sich gut an die Anfänge an der Grafenberger Allee, dem Stammgelände der Graf Recke Stiftung. Dort hatte es bis dahin – 165 Jahre lang – ausschließlich Angebote im Rahmen dessen gegeben, was sich heute Jugendhilfe in der Graf Recke Erziehung & Bildung nennt.
Geradezu familiär
Das Angebot für Erwachsene mit psychischen Erkrankungen war anfangs sehr überschaubar, geradezu familiär. Die Bewohnerinnen und Bewohner zogen nach und nach ein. Martin Stötzel erinnert sich: "Einzelne Kollegen waren schon da, Herr Monhof als Initiator und Leiter des Bereichs, auch eine Verwaltungsmitarbeiterin, die vorher schon in der Jugendhilfe war, ein Hausmeister, Küchenpersonal und eine Handvoll pädagogischer Mitarbeitender."
Für die Graf Recke Stiftung war das neue Angebot für psychisch erkrankte Erwachsene damals ein neues, ein zweites Standbein neben der Kinder- und Jugendhilfe. (Knapp zehn Jahre später sollte mit der ersten Pflegeeinrichtung ein drittes hinzukommen.) "In der Düsseldorfer Innenstadt waren wir als eine Einrichtung in der Größe mit die ersten", erinnert sich Ruth Reuber, die kurz nach Martin Stötzel in die Graf Recke Stiftung kam und heute das Wohnhaus an der Wilhelm-Tell-Straße leitet. Von Anfang seien auch Arbeits- und Ergotherapie auf dem Gelände angeboten worden, es habe bereits die Schreinerei, die Gärtnerei, die Küche und die Wäscherei gegeben. "Das wurde von Anfang an mitgeplant ", sagt Ruth Reuber. Das benachbarte Haus Zoppenbrück, das 1990 die ersten Bewohnerinnen und Bewohner aufnahm, lag zwar ebenfalls auf dem Gelände, habe schon als Außenwohngruppe gegolten, so Reuber weiter. Und 1990 sei vorne an der Grafenberger Allee in einer Wohnung ein erstes Sozialpsychiatrisches Zentrum eingerichtet worden.
Zeit der Enthospitalisierung
Es waren die Auswirkungen der Psychiatriereform der 1970er und des damit einhergehenden Enthospitalisierungsprogramms der Kliniken, die dem neuen Geschäftsbereich den Weg ebneten und der heute, erweitert um die Angebote für Erwachsene mit Behinderungen, als Graf Recke Sozialpsychiatrie & Heilpädagogik firmiert. "Im Zuge der Enthospitalisierung wurde versucht, Langzeitpatienten in andere Wohnformen zu überführen", erklärt Martin Stötzel. Anfangs seien das die "klassischen stationären Wohngruppen" gewesen, der Plätze ab 1987 nach und nach belegt wurden. "33 psychisch Behinderte im Erwachsenenalter werden dort in Ein- und Zweibettzimmern einen Wohnplatz finden", heißt es im "Düsselthaler Gruß" von 1987. "Eine weitgehend selbstständige Lebensführung" und eine "berufliche und soziale Rehabilitation" wurden als Ziele für die ersten Klientinnen und Klienten ausgerufen.
Aufgenommen an der Grafenberger Allee wurden Langzeitpatienten, die in der Vergangenheit Ausgrenzung und Verwahrung in den Psychiatrien erlebt hatten. In der Psychiatrie-Enquête von 1975 waren schwerwiegende Mängel in der damaligen psychiatrischen Versorgung deutlich benannt und Empfehlungen für eine Reform formuliert worden. Therapie und Rehabilitation, gemeindenahe Versorgung und die Vermeidung oder Verkürzung stationärer Aufenthalte mithilfe ambulanter Hilfsangebote im Lebensumfeld der Patienten und ihrer Familien gehörten dazu.
Rotierendes System
Ruth Reuber erinnert sich an die Anfänge: "Anfangs gab es vier Gruppen – zwei auf erster Etage und unterm Dach zwei weitere." Ein rotierendes System aus Frühdienst, Spätdienst und Nachtbereitschaft stellte die Betreuung sicher. "Der Bereichsleiter Herr Monhof war in den Anfängen im Schichtdienst voll dabei", erzählt Reuber. Die Bewohnerinnen und Bewohner erhielten Vollversorgung: "Die Hauswirtschafterinnen haben das Essen in die Kühlschränke in den Wohnungen verteilt." In der Folge wuchs der Bereich stetig, noch im gleichen Jahr wurde eine Aufstockung der Platzzahl in Alt-Düsselthal von 33 auf 40 bekanntgegeben und schon Anfang der 1990er begann die Sozialraum-Erschließung über das Stammgelände an der Grafenberger Allee hinaus. "Wir haben über private Kontakte Hausbesitzer kontaktiert und die angemieteten Wohnungen selbst gestrichen", berichtet Ruth Reuber. "Wir waren jung und wollten das vorantreiben." Hausbesitzer seien anfangs oft kritisch gewesen, ebenso oft dann aber geradezu begeistert. Auch an die ersten Klienten, die ins Betreute Wohnen zogen, erinnert sich Reuber gut. "Das war ein Ehepaar, das sich im Haus in Grafenberg kennengelernt hat und dann in die erste eigene Wohnung im Dachgeschoss der Humboldtstraße gezogen ist."
"Die Graf Recke Stiftung ist sicherlich ein Neuling in der Betreuung psychisch Behinderter", heißt es in der Ausgabe 4/1987 im "Düsselthaler Gruß". "Aber sie ist vielleicht gerade dadurch in der Lage, neue Wege zu suchen und zu gehen. Erste Erfolge bestätigen diesen eingeschlagenen Weg. Oder ist es kein Erfolg, wenn psychisch behinderte Erwachsene mit einer 10- bis 30-jährigen ,Vergangenheit' in psychiatrischen Kliniken nunmehr in der Lage sind, in einer Wohngemeinschaft zu leben?"
Heute ermöglicht der Sozialpsychiatrische Verbund die Begleitung von Menschen mit psychischen Erkrankungen in individuellen Wohn- und Unterstützungsformen in Düsseldorf, Ratingen und Kaarst, in Arbeits- und Ergotherapie in Düsseldorf und Kaarst sowie im Sozialpsychiatrischen Zentrum, der Tagesstätte, dem Café Geistesblitz und der Praxis für Ergotherapie in Düsseldorf. Das Ziel der Begleitung ist ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben