Vom Schließen und Öffnen von Türen: Sport und Motopädagogik in Grünau
»Die Kinder, die zu uns kommen, haben teilweise überhaupt keine Bewegungserfahrung«, sagt Sylvia Betsch von der Jugendhilfe Grünau. Ihr Kollege Michael Haubrock ist dazu da, das zu ändern. Sport ist in Grünau ein wichtiger Faktor, berichten die beiden im Interview mit Dr. Roelf Bleeker. Dabei geht es um Motorik, Ausgeglichenheit, Selbstwertgefühl und auch um Inklusion. Und ein Video aus der »Sportscheune« in Bad Salzuflen zeigt, wie das sportliche Angebot die jungen Menschen in Bewegung bringt.
Was versteht man eigentlich unter Motopädie?
Haubrock Im Schwerpunkt geht es darum, die psychomotorischen Basiskompetenzen zu fördern, also Fähigkeiten wie Kraft, Gelenkigkeit, Schnelligkeit, Gleichgewicht, Körperwahrnehmung und Ausdauer. Wir zeigen den Kindern, zum Beispiel auf dem Trampolin, in kleinen Schritten, was sie eigentlich schon können, und machen ihnen dies bewusst. Ziel ist es, die kleinen Schätze, das Können der Kinder, an die Oberfläche zu bringen, um daraus ein Selbstwertgefühl zu entwickeln.
Video: Die Sportscheune in Grünau
Was ist Ihre Qualifikation?
Haubrock Ich bin Erzieher, Heilpädagoge, Motopädagoge und SI-Mototherapeut. SI steht für »Sensorische Integration«. Da geht es um die Koordination und das Zusammenspiel der sensorischen Basissinne wie Geschmackssinn, Hautsinn, Sehsinn, Gehörsinn, Tiefenwahrnehmung und Gleichgewichtssinn.
Warum ist Motopädie so wichtig für die Kinder, gerade in Grünau?
Betsch Manche Kinder, die zu uns kommen, haben wenig oder überhaupt keine Bewegungserfahrung, in keinerlei Hinsicht. Manche von ihnen müssen wir erst mal dazu motivieren, überhaupt hier bei uns auf den Platz oder in den Wald zu gehen. Das ist für manche Kinder beängstigend, weil sie dies von zu Hause nicht kennen. Es sind mitunter traumatische Erlebnisse dafür verantwortlich, dass Kinder sich kaum oder gar nicht bewegen wollen oder können.
Michael Haubrock
ist seit 45 Jahren Erzieher in Grünau.
Bewegungsangebote und -anreize sind wichtig, um das Gefühl der Lebensfreude zu spüren und im sicheren Rahmen neue Dinge ausprobieren zu können. Über das gemeinsame Spielen lernen die Kinder und Jugendlichen außerdem, sich im sozialen Kontext zu bewegen. Die Bewegung ist das Medium zum Lernen auf allen Ebenen.
Michael Haubrock
Michael Haubrock, 63, ist seit 45 Jahren in Grünau tätig. Der Erzieher, Heilpädagoge, Motopädagoge, SI-Mototherapeut und PART-Deeskalationstrainer begann als Gruppenerzieher und war dann viele Jahre in verschiedenen Gruppen Teamleiter. Vor 25 Jahren wechselte er in den Fachdienst mit dem Schwerpunkt auf seiner heutigen Tätigkeit.
Welche Rolle spielt dabei der Wettbewerb?
Haubrock Ich nehme mal als Beispiel meine Fußballmannschaft, die ich schon über Jahre einmal in der Woche trainiere: Wenn ich eine Tür zumache, das heißt, wenn ich jemanden kritisiere, was auch zum Lernprozess gehört, dann muss ich vorher eine Tür aufgemacht haben. Ich habe einen Jugendlichen vor Augen, der ein bisschen kleiner und korpulent ist. Er kann nicht so optimal einen Ball annehmen. Aber er hat ein gutes Stellungsspiel. Und das signalisiere ich ihm, das ist die Tür, die ich aufmache. Und dann kann ich auch mal sagen: Also das war jetzt ein bisschen daneben, wie du gerade geschossen hast, da gibt es eine andere Schusstechnik. Das akzeptiert er, weil er weiß: Ich kann auch was. Und das wird auch innerhalb der Mannschaft akzeptiert. Ich habe es noch nicht erlebt, dass die Mannschaft sich untereinander beleidigt hat.
Betsch Wir gucken immer ganz genau: Wo können wir die Kinder auch sportlich einbinden, wo der Wettbewerbsgedanke vielleicht nicht so wichtig ist? Einige gehen zum Beispiel zur DLRG hier. Da ist Bewegung dabei, es steckt aber auch ein sozialer Aspekt dahinter: Ich trainiere, andere Menschen aus Gefahrensituationen zu retten, ich habe also auch noch einen emotionalen Benefit.
Die Dosis ist ja immer eine Herausforderung. Eltern wissen das zu schätzen, wenn die eigenen Kinder sich auspowern können und abends dann schön müde sind. Aber da gibt es auch Kipppunkte, an denen das ins Gegenteil umschlägt …
Betsch Kolleginnen und Kollegen berichten immer wieder davon, dass diese Gleichung – power dich mal ordentlich aus, dann wirst du auch ruhiger – in den seltensten Fällen tatsächlich aufgeht und die Kinder dann auf eine gute Art und Weise müde und erschöpft sind.
Vielmehr drehen sie danach noch richtig auf und finden gar nicht in eine Ausgeglichenheit, geschweige denn in den Schlaf. Von daher ist es immer hilfreich zu schauen, welche Art von Bewegung gut ist und wo eventuell auch mal abgebrochen werden muss.
Sylvia Betsch
ist pädagogische Leiteirn in Grünau.
Sylvia Betsch
Sylvia Betsch, 55, arbeitet seit 30 Jahren in Grünau, heute als pädagogische Leitung. Die gelernte Diplom-Sozialpädagogin hat sich weitergebildet zur systemischen Familientherapeutin, Trauma- Fachberaterin, Trauma-Pädagogin und Affektkontroll-Trainerin.
Haubrock Ausgeglichenheit und Entspannung können ja auf der physischen und auf der psychischen Ebene stattfinden. Wenn ein Kind oder ein Jugendlicher ein tolles Erlebnis hat, kann es sich auch entspannter zur Nacht begeben. Es muss sich dafür nicht körperlich verausgabt haben. Ich komme aus dem Leistungssport und weiß auch, was es bedeutet, an die körperlichen Grenzen zu gehen. Dort, wo es passt, mache ich es dann aber bewusst, um Grenzen aufzuzeigen.
Könige an ihren Grenzen
Es gibt Jugendliche, die meinen, sie wären die Könige. Und dann machen wir mal eine Radtour und nehmen uns ein paar Berge vor. Gerade Ausdauersport halte ich für unwahrscheinlich wichtig, das hat viel mit Selbstdisziplin zu tun, die wir auch im späteren Leben benötigen, um Ziele zu erreichen. Wenn ich mit Jugendlichen einen Berg hochfahre und da ist einer richtig am Kämpfen, dann sage ich ihm, wenn es dann in die Abfahrt geht: Wenn du irgendwann mal in deinem Leben ein großes Problem hast, erinnere dich an diesen Berg, den du gerade geschafft hast. Vielleicht kann dir diese Erinnerung helfen, über deine Krise oder deinen momentanen Tiefpunkt besser hinwegzukommen. Aber da muss ich ganz genau hingucken: Wem kann ich das zumuten und wie führe ich diesen jungen Menschen richtig an seine Grenze heran?
Welche Bedeutung hat das Thema Inklusion bei der Motopädie?
Betsch Wir fangen im Kleinen an, Kinder und Jugendliche zu befähigen, sich zu bewegen, Spaß zu haben, sich im sozialen Kontext durch Bewegung zu verhalten, damit sie dann auch in der Schule mithalten können oder sich auch trauen, in einen Verein zu gehen. Oder beispielsweise einen Kopfsprung ins Wasser zu lernen, damit sie in ihrer Peergroup gut dastehen. Das machen wir nicht nur in der Therapie, sondern auch im pädagogischen Alltag. Wenn die Kolleginnen und Kollegen mit den Kindern im Sommer in die Freibäder gehen, um Spaß zu haben, steht auch immer ein Lernaspekt dahinter. Damit die Kinder eben nicht Außenseiter sind, die am Rand stehen oder sich da gar nicht erst verabreden, weil sie nur mit Schwimmflügeln durch die Gegend laufen können. Inklusion denken wir immer mit, das ist unser Auftrag.
Haubrock Ich habe einen Jugendlichen in der Psychomotorik, wenn der mir freudestrahlend erzählt, dass er während der Pausen mit seinen Klassenkameraden in der Schule gebolzt hat, dann ist das ein tolles Ergebnis: Er gehörte zur Gruppe. Das ist doch wunderbar! //