Ungeahnte Potenziale in schwierigen Zeiten

|

Corona hat den Unterricht an den Förderschulen der Graf Recke Stiftung extrem verändert. Das soziale Leben kam zeitweilig zum Erliegen. Für viele bedeutete Schule auf Distanz eine trostlose Zeit. So manches aber hat sich sogar zum Positiven gewandelt: Die Digitalisierung etwa nahm an Fahrt auf, der Gemeinsinn wurde gestärkt – und einige wuchsen sogar über sich hinaus. Die wohl überraschendste Erkenntnis: Kinder und Jugendliche vermissten plötzlich die Schule.

Seit mehr als einem Jahr läuft der Unterricht an den Förderschulen I und II der Graf Recke Stiftung in Düsseldorf-Wittlaer nun unter Coronabedingungen. Mit durchaus weitreichenden Folgen. „Die Kinder haben ihre Unbeschwertheit verloren“, benennt Schulleiterin Diana Seng die wohl dramatischste. Doch sie und ihr Kollege Benedikt Florian von der Schule I haben auch viel Mut machendes erlebt. „Es gibt positive Erfahrungen, die über die Pandemie hinausreichen werden“, davon ist der Schulleiter überzeugt. Denn einige, ob Schüler oder Lehrkräfte, sind in extrem schwieriger Zeit über sich hinausgewachsen.

Das gilt freilich nicht für alle. Diana Seng, Leiterin der Schule II mit den Förderschwerpunkten emotionale und soziale sowie geistige Entwicklung vom ersten bis zum sechsten Schuljahr, hat bei einzelnen Schülerinnen und Schülern Entwicklungsrückschritte beobachtet. „Sie haben eine trostlose Zeit erlebt, das darf man nicht verschweigen“, sagt sie. Sie seien eine Schule für Kinder mit Unterstützungsbedarf, macht sie deutlich, „Erziehung durch Beziehung“, laute einer der Kernsätze. Doch genau dies war monatelang kaum möglich, Telefonate und Videogespräche könnten den direkten menschlichen Kontakt nicht ersetzen.

Richtiggehend reingefuchst

Ein Umstand, der Diana Seng zugleich eine der erfreulichen Erkenntnisse bescherte: „Wir haben erlebt, dass Schule vermisst wurde“, erzählt sie. Schule habe für Kinder und Eltern „an Bedeutung gewonnen.“ Zugleich habe in der Unterrichtsarbeit ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Das verpflichtende Distanzlernen sei ein Feld gewesen, in dem man sich über die Monate immer weiter verbessert habe. Es sei „erstaunlich, welches Potenzial bei vielen dadurch deutlich wurde“, zeigt sie sich begeistert. Nicht nur die Kinder hätten gezeigt, was in ihnen steckt. Auch so mache Lehrkraft habe sich „da richtiggehend reingefuchst“.

Sabine Kuznik, Lehrerin für Sonderpädagogik am Standort Heckenwinkel, ist eine davon. „Jedem Schüler und jeder Schülerin haben wir die Gelegenheit gegeben, mindestens einmal täglich mit uns zu zoomen und ihren Wochenplan per Lernplattform digital und analog zu bearbeiten“, berichtet sie. Zum Einsatz kamen dabei so genannte Padlets, eine digitale Form der Pinnwand für den Unterricht. „Die meisten konnten dies mit eigenen Geräten wahrnehmen“, freut sich Sabine Kuznik. Für die anderen waren Leihgeräte vorhanden.

Für Benedikt Florian von der Graf-Recke-Förderschule I für Jugendliche ab dem siebten Schuljahr war dies „ein Highlight“ in der durch die Pandemie geprägten Zeit. „Die Schule wäre sonst nie so schnell digitalisiert worden“, glaubt der Schulleiter. Tragbare Tablet-Computer auf Leihbasis für die Schüler zu haben, sei das eine. Zugleich seien auch die Lehrer ausgestattet worden, „und auch datenschutzrechtlich war das jetzt geklärt“, sagt er. Für seine älteren Schüler ergab sich dadurch tatsächlich eine Chance.

„Eigenverantwortliches Lernen, in diesem Bereich haben die Schüler oft große Probleme“, weiß Benedikt Florian. Durch die neue Form des virtuellen Unterrichts aber habe es für diese nun weitere Zugänge gegeben. „Für Jugendliche ist das oft ein Vorteil, nicht direkt um acht Uhr funktionieren zu müssen, sondern ihre Lernzeiten ein Stück weit selbst bestimmen zu können“, sagt er. Sie konnten, mit Zielvorgaben, ihren Tag nun selber strukturieren und im eigenen Tempo lernen. „Und es gab einige, die gerade in der Coronazeit bei der Selbstverantwortung große Fortschritte gemacht haben.“

Corona hat das Schulleben verändert.
Coronaregeln sind inzwischen ebenso selbstverständlich ...
... wie die Digitalisierung der Schule.
Auch Schulleiter Florian verbringt heute mehr Zeit vorm Bildschirm.

Dies berührt allerdings zugleich eine weitere, gravierende Folge der Pandemie: „Das soziale Leben in der Schule ist zum Erliegen gekommen“, bringt es Benedikt Florian auf den Punkt. Der Pädagoge spricht von „sozialer Verarmung“, was insbesondere bei Jugendlichen mit Defiziten in diesem Bereich Folgen haben könne. „Es gab einzelne Fälle, wo es dringend geboten war, dass Kolleginnen und Kollegen sich in ihrer Lehrerrolle auf einen gemeinsamen Abstandsspaziergang verabredet haben“, erinnert er sich.

Schule I

Die Graf Recke Stiftung ist Trägerin zweier privater Förderschulen in Düsseldorf, Ratingen, Hilden und Wuppertal. Die Förderschule I der Graf Recke Stiftung ist eine Schule für den Schwerpunkt „Emotionale und soziale Entwicklung“. Die Schule I besuchen Schülerinnen und Schüler ab dem siebten Schulbesuchsjahr. Sie liegt im Norden Düsseldorfs an den Stadtgrenzen zu Duisburg und Ratingen und hat einen weiteren Standort im Dorotheenviertel Hilden, angrenzend an die Düsseldorfer Stadtteile Benrath und Hassels. Beide Schulstellen bieten durch ihre naturnahe Lage ein ruhiges Umfeld und sind dennoch mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen.

Mehr erfahren

Diana Seng hat die Problematik bei den Jüngeren ebenfalls beobachtet. Manche, erzählt sie, hätten äußerst in sich gekehrt gewirkt. Andere reagierten auf die Isolation mit Frust und Gereiztheit. Darüber hinaus haben sich die Bedingungen zuweilen von Woche zu Woche geändert, oft mit nur einem Wochenende Vorlauf. „Wir hatten Notgruppen, Wechselunterricht, reines Distanzlernen und erweiterte Betreuungsformen“, macht die Schulleiterin deutlich. „Für Kinder und Erwachsene war höchste Flexibilität gefragt.“

Umso dankbarer ist Diana Seng über die Bereitschaft aller, die jeweiligen Konzepte mitzutragen. „Die Krise war eine riesige Herausforderung. Aber wie alle Akteure das zusammen durchgestanden haben, hat mich beeindruckt“, sagt sie. Selbst der inmitten der Pandemie stattfindende Umzug von Teilen des Schulbetriebs in die neue Schulstelle Heckenwinkel habe funktioniert, zeigt sich Seng erleichtert.

Schule II

Neben der Förderschule I gibt es die Förderschule II. Anders als ihr Name erwarten lässt, gehen hier die jüngeren Kinder zum Unterricht, die einen Förderbedarf "Emotionale und soziale Entwicklung" (siehe Infokasten oben) haben. Sie werden im Bereich der Primar- und Orientierungsstufe bis zum sechsten Schulbesuchsjahr unterrichtet. Darüber hinaus bietet die Schule II Unterricht für Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt "Geistige Entwicklung" in Verbindung mit dem Förderbedarf Emotionale und soziale Entwicklung.

Mehr erfahren

Sabine Kuznik, die seit dem Umzug dort unterrichtet, weiß warum. Das Arbeiten in der Coronazeit sei durch die zuvor bereits hervorragende Kooperation der beteiligten Personen deutlich erleichtert worden, sagt die Sonderpädagogin. Sie nennt beispielhaft die Mitarbeitenden aus den Wohngruppen, Therapeutin Britta Pohland oder Pfarrer Dietmar Redeker – sie alle sind demnach näher zusammengerückt, wenngleich nur virtuell.

Im März fand nach Monaten erstmals wieder Präsenzunterricht statt, worauf sich alle sehr gefreut haben. Doch auch dieser fand weiterhin unter besonderen Umständen statt. Allerdings: Kerstin Reese, Sonderpädagogin im Team Primo, zeigt sich „beeindruckt, welche Sensibilität die Schüler für Abstand und Hygiene entwickelt haben“. Im Übrigen gingen die meisten Kinder besser als die Erwachsenen mit den Masken um, so ihre Erfahrung. Das ist nicht zu unterschätzen, hat man laut Schulleiterin Diana Seng doch in Punkto Beziehungsarbeit viel nachzuholen. „Wir brennen darauf, wieder gemeinsame Aktionen in Präsenz zu veranstalten“.

Die Voraussetzungen dafür sind laut Benedikt Florian auch baulich gegeben. „Kleine Gruppen, viele Räume“, benennt er die guten Bedingungen fürs Lernen vor Ort. Zudem achte man im Schulbetrieb sehr auf die Kontakte und habe stets feste Gruppen. „Die Gefahr lauert eher auf dem Schulweg oder in der Freizeit“, meint er. Überall dort eben, wo Menschen unkontrolliert zusammenkommen, „da sensibilisieren wie unsere Schüler täglich“.

Recht auf Home-Office

Und so ist auch der Leiter der Schule I froh über jeden Tag, an dem Schülerschaft und Kollegium im Haus sind. Auch Besprechungen mit seiner Kollegin Seng via Bildschirm hat er zur Genüge erlebt. Eines allerdings wünscht sich Benedikt Florian für die Zeit nach Corona: Schule sollte Spielräume in der Gestaltung des Unterrichts haben, findet er. So könnte er sich beispielsweise vorstellen, manchen einmal wöchentlich den Schulweg und die starren Unterrichtszeiten zu ersparen. „Das würde einigen guttun und dennoch einen zusätzlichen Lernanreiz schaffen“, sagt er. Zudem: „Wenn die Eltern ein Recht auf Homeoffice haben, sollte man das den Kindern, wenn es pädagogisch sinnvoll erscheint, doch auch zugestehen.“

recke:newsletter

Was wir bewegen. Was uns bewegt: News und Storys aus der Graf Recke Stiftung.

Jetzt abonnieren