Sein Freund, das Klavier
Innerhalb von wenigen Monaten hat sich Jeremy selbst das Klavierspiel beigebracht – mit erstaunlicher Wirkung. „Die Musik hilft mir, mein Leben auf die Kette zu kriegen“, sagt der 18-Jährige, der seit gut zwei Jahren in einer Kleinstgruppe der Graf Recke Stiftung lebt. Davor war er vom sechsten Lebensjahr an von Einrichtung zu Einrichtung gereicht worden. Nun nutzt er die Freiheiten, die ihm in seiner jetzigen Wohnform geboten werden. Sein Umfeld attestiert ihm eine enorme Entwicklung, weit über das Musikalische hinaus.
Zuweilen kann eine einzige Entscheidung ein Leben verändern. Bei Jeremy war es im zurückliegenden Winter der Griff in den Schrank, wo seit geraumer Zeit sein unbenutztes Keyboard lag. „Es ging mir gerade sehr schlecht, da habe ich es wieder rausgeholt“, erzählt der 18-Jährige. Was er damals nicht ahnte: Der spontane Entschluss, die ersten selbstgespielten Töne, sollten in ihm eine Leidenschaft wiedererwecken: die zur Musik. Dass er diese nun auslebt, mittlerweile am eigenen E-Piano, hat ihn innerhalb weniger Monate nicht nur zu eindrucksvoller Fertigkeit geführt, sondern tatsächlich zu einem anderen Menschen gemacht. „Ich könnte nicht mehr ohne Klavier“, sagt er mit Überzeugung. „Es beruhigt mich, es verändert mich. Es lässt mich die Welt vergessen.“

Die Welt zu vergessen, wenn auch nur für kurze Zeit, ist für Jeremy von Bedeutung. Zu viel hat er schon erlebt. Seit dem 1. Juli 2021, er kennt dieses Datum genau, lebt er nun in einer Kleinstgruppe der Graf Recke Stiftung in Leichlingen – und fühlt sich erstmals angekommen. Insgesamt elf pädagogische Kräfte kümmern sich dort um ihn und seine beiden Mitbewohner, rund um die Uhr. „Deshalb ist der Betreuungsschlüssel so hoch“, erklärt Sozialpädagogin Grazyna Kawka. Das habe Gründe: „Unsere Bewohner sind so genannte Systemsprenger. Das heißt: Sie konnten sich in ihren früheren Gruppen nicht einordnen oder zurechtfinden“, sagt sie. Selbst in Intensivgruppen lebten meist sechs oder sieben junge Menschen zusammen, „aber das fängt man bei solch extremen Biografien nicht auf“.
Jeremy macht da keine Ausnahme: Geboren und aufgewachsen in Krefeld, wurde er bereits als Sechsjähriger aus seiner Familie genommen. „Mein Vater hatte immer mehr getrunken, er wurde dann auch gewalttätig, gegen meine Mutter und auch gegen mich“, erzählt er. Seine Mutter, die insgesamt neun Kinder hat, sei von der Situation damals völlig überfordert gewesen, „obwohl sie eine starke Frau ist“, wie Jeremy betont. Bis heute sei seine Mutter ihm sehr nah, auch wenn er sie nur selten besuche könne, da sie nicht mehr in der Nähe wohne, berichtet er. Zusammen gelebt haben sie seitdem nie mehr.
Er lebte in 13 Wohngruppen
Eigentlich, erzählt Jeremy, sollten er und seine Geschwister damals nur für zwei Wochen in eine Schutzeinrichtung kommen, „aber dann war ich schon nach zwei Tagen zum ersten Mal in einem Kinderheim in Krefeld“. Er habe seine Mutter sehr vermisst damals, das alles nicht begriffen, Fluchtpläne gezeichnet. Er sei ohne Spielzeug dort hingekommen, habe das einfach so hinnehmen müssen, erinnert er sich. Ein entscheidender Punkt: „Ein solches Erlebnis, in diesem Alter, kann ein Kind traumatisieren“, weiß Sozialpädagogin Grazyna Kawka. „Kinder hängen in der Regel an ihren Eltern, egal was passiert ist.“
Doch es gab kein Zurück: Zwei seiner Brüder leben laut Jeremy noch immer in der Krefelder Einrichtung, die jüngste Schwester bei der Mutter und deren neuem Partner, zu den anderen Geschwistern sei der Kontakt abgebrochen. Für ihn selbst allerdings begann in der Folge eine Odyssee durch verschiedenste Einrichtungen. 13-mal habe er in knapp 13 Jahren die Wohngruppe gewechselt, erzählt er. Weil man nicht in der Lage gewesen sei, einen Platz für ihn zu finden, sei er „rumgereicht worden“, beklagt er. „Ich kam immer wieder in Regelgruppen, und da war ich jedes Mal die Nervensäge.“
Das kam nicht von Ungefähr: Zwei Mal erlebte Jeremy als Kind sexuelle Übergriffe. „Ich habe Ticks entwickelt, damals hat das angefangen“, berichtet er. Schon mit sechs Jahren sei bei ihm zudem eine Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert worden, dazu ADHS und eine Impulskontrollstörung. Mit Folgen: „Wenn ich in Rage bin, kann schon mal eine Flasche fliegen“, erklärt er. „Aber so wollte ich nie sein, dann bin ich von meinen Emotionen ferngesteuert.“ Nirgendwo aber konnte er deshalb bleiben, insgesamt fast zwei Jahre habe er in Jugendschutzstellen verbracht. „Dort durfte ich so gut wie nichts. Ich machte im Prinzip nur eines: Warten darauf, dass ich ein Zuhause finde“, sagt er. „Das hat erst hier geendet.“
Die Chemie im Team stimmt
Seit gut zwei Jahren, so lange wie in keiner anderen Einrichtung, lebt Jeremy nun in Leichlingen. Er mag die Stadt, das Zentrum sei nur wenige Minuten entfernt, nur kurz die Straße runter. Das Besondere aber sei die Zusammenstellung des Teams, bei dem die Chemie zwischen Bewohnern und Betreuern stimme, wie er findet. Hinzu komme „der beste Teamleiter der Welt“. Vor allem jedoch genießt Jeremy jetzt Freiheiten, die er in anderen Einrichtungen „so noch nie erlebt hat“, wie er versichert. „Erst dadurch habe ich die Möglichkeit bekommen, mich persönlich zu entfalten, mich selbst und meine Kreativität zu entdecken“, sagt der therapieerfahrene junge Mann.
Erst dadurch habe ich die Möglichkeit bekommen, mich persönlich zu entfalten, mich selbst und meine Kreativität zu entdecken.
Und es ist nicht alleine die Musik, die ihm so viel bedeutet. Seit jeher begeistert den bekennenden Nerd alles Elektronische. Rund 70 Smartphones hat er gesammelt, sie vor der Verschrottung gerettet, geschenkt bekommen oder billig erstanden. Darüber hinaus finden sich in seinem Zimmer jede Menge Technik-Schätzchen, von Laptops über analoge Kameras bis hin zu einem antiquierten Röhrenfernseher. Er hat großen Spaß an alldem. „Aber nirgendwo durfte ich bisher etwas zusammenbauen oder auseinanderschrauben“, sagt er.

Das hat sich zum Glück geändert, in der Kleinstgruppe lässt man Jeremy nun freie Hand: Sein E-Piano etwa hat er im Internet entdeckt, als defekt deklariert und zum Verschenken. Er griff sofort zu, organisierte den Transport von Düsseldorf nach Leichlingen, und hat es danach eigenhändig wieder auf Vordermann gebracht. „Ich bin ein Bastler, ich habe das hingekriegt.“ Ein paar weiterhin klemmende Tasten packte er auf der Klaviatur einfach nach ganz rechts, „die braucht man ja fast nie“, meint er mit einem Lachen.
Seit Dezember schon will Jeremy nun eigentlich Klavierunterricht nehmen, es kam bislang nicht dazu. Gemeinsam mit seinem Integrationshelfer, der glücklicherweise Klavier spielen kann, hat er aber schnell Fortschritte gemacht. Und mit Hilfe von YouTube: Insbesondere der italienische Pianist Ludovico Einaudi begeistert den 18-Jährigen, dessen minimalistisches Spiel vor allem. „Er ist mein Idol“, schwärmt er. Dessen Stück „Nuvole Bianche“ etwa beherrscht er souverän. Wie viel Üben, wie viel Fleiß darin steckt, lässt sich nur erahnen.
Video: Jeremy spielt
Doch Jeremy kennt auch seine Schwächen, sie liegen auf anderem Gebiet. „Ich rede oft sehr laut – und sehr, sehr viel“, bekennt er. Er sei andererseits schnell traurig und enttäuscht. „Da muss nur jemand etwas vergessen haben, was er versprochen hat.“ Diese Stimmungsschwankungen seien weniger geworden, er könne jetzt besser an sich arbeiten. „Wenn ich frustriert bin, setze ich mich ans Klavier und hinterher ist alles wieder gut.“ Er könne dadurch auch mit Streit und Konfliktsituationen besser umgehen.
„Ein Klavier soll ein Freund sein, das heißt ein Vertrauter, der unsere Wut hinnimmt“, konstatierte einst der französische Autor, Komponist und Musiker Félix Leclerc, „Das Klavier hilft mir dabei, mein Leben auf die Kette zu kriegen“, so formuliert es Jeremy.
Seine Stärken für sich entdeckt
Betreuerin Grazyna Kawka kann das bestätigen. Sie kenne die Punkte, die noch nicht funktionieren, meint sie. Aber Jeremy gehe in den Austausch, sei sehr reflektiert. „Auch das Klavierspielen hat er sich vor allem selbst beigebracht, er war der Sache hinterher“, lobt sie. „Er hat seine Stärken für sich entdeckt.“ Das sei ohnehin das Wichtigste: Darauf zu schauen, was Kinder und Jugendliche können und ihnen dann Zeit zu geben, sich zu entwickeln. „Nicht alle waren begeistert, sechs Stunden Klavier zu hören, gerade in der ersten Übungsphase“, räumt die 53-Jährige mit einem Schmunzeln ein. Dass es sich gelohnt hat, nicht nur musikalisch, ist für sie aber keine Frage. Seit 22 Jahren arbeite sie in verschiedenen Wohngruppen der Stiftung, „aber so eine Entwicklung habe ich noch nicht erlebt.“
Doch Jeremy will nicht stehen bleiben, hat große Pläne. Vor kurzem hat er die Hauptschule abgeschlossen, ab dem Spätsommer wird er eine Berufsvorbereitung in Köln besuchen, „speziell für Autisten“, wie er erklärt. Sein Traum sei, einmal als Software-Entwickler zu arbeiten, eigene Spielewelten zu schaffen. Die interessieren ihn mehr, als das Computerspiel selbst. „Dann könnte ich die Musik mit einfließen lassen“, so seine Idee.
Dass die Musik in seinem Leben weiterhin eine große Rolle spielen wird, steht für den 18-Jährigen ohnehin außer Frage. Gerne würde er zudem einmal auf einem richtigen Flügel spielen oder einer großen Orgel. Einmal bereits durfte Jeremy sich kurz an ein Kircheninstrument setzen, im Rahmen eines Ausflugs mit seiner damaligen Schulklasse. „Aber damals konnte ich noch gar nichts“, erinnert er sich. Das wäre nun zweifellos anders. Und wer weiß? Vielleicht kann er sein jetziges Können schneller unter Beweis stellen, als Jeremy es beim Interview ahnte.