Schritte zurück und nach vorn

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Thomas Hirt wechselte vor zwei Jahren vom Wohnhaus am Bruchweg in Kaarst ins Betreute Wohnen nebenan, trotz psychischer Erkrankung. Für den 36-Jährigen ein Schritt in ein „freieres und erwachseneres Leben“. Maxine Glaesmann hat diesen noch vor sich, doch die 24-Jährige hat sich auf ihre Weise auf den Weg gemacht. Denn wie viel Selbstständigkeit und Eigenverantwortung sich für Menschen mit psychischen Problemen als förderlich erweist, ist ganz individuell, wissen Annette Weirauch und Kai-Uwe Weber aus der Praxis. Ihr Tätigkeitsfeld hat sich zuletzt erweitert, sie müssen etwa häufiger über Geld sprechen.

Eigentlich, sagt Maxine Glaesmann, wollte sie diesen Schritt gar nicht gehen. Was sie meint, ist ihr Wechsel vom Betreuten Wohnen in weitgehender Autonomie hin ins Wohnhaus der Graf Recke Stiftung am Bruchweg in Kaarst. „Ich wollte keinen Schritt zurück machen. Es fühlte sich falsch an“, erinnert sie sich. Und doch hat sich die 24-Jährige im August dieses Jahres dazu durchgerungen, allein ihrer Gesundheit wegen. Heute kann sie über ihre damaligen Bedenken nur noch schmunzeln. Und das will etwas heißen: Die junge Frau leidet seit Jahren an Depressionen.

Nun sitzt Maxine Glaesmann in der gemütlichen Gemeinschaftsküche ihres neuen Zuhauses und berichtet von ihrem herausfordernden Lebensweg – aber vor allem den jüngsten Erfolgen. Die gebürtige Düsseldorferin hatte nach der Schule eine Ausbildung zur Erzieherin angefangen, aber alsbald abgebrochen. „Ich habe nur noch für die Arbeit gelebt, fühlte mich total überfordert“, erzählt sie. Damals wusste sie noch nicht, warum sie so empfindet. Erst nach einer belastenden Operation und einem Trauerfall in der Familie, die zeitlich nah beieinander lagen, erhielt sie ihre Diagnose: Depression.

Seitdem wechselten für die junge Frau gute und schlechte Tage sich ab, doch die schlechten überwogen. In ihrem Leben ging nichts voran. An ihrem Engagement lag es nicht, sie wollte unbedingt beruflich Fuß fassen: „Ich orientierte mich in Richtung Verwaltung, habe immer wieder Bewerbungen geschrieben, geklappt hat es nie“, sagt sie ernüchtert. 2020 war für Maxine Glaesmann dann klar, dass es so nicht weitergehen kann. Ab dem Sommer verbrachte sie zur Behandlung ihrer Krankheit drei Monate in einer psychosomatischen Klinik, wechselte danach ins Betreute Wohnen in Düsseldorf, ihrer Heimatstadt.

Es war der vermeintlich richtige Schritt auf dem Weg in ein wieder selbstbestimmtes Leben. „Aber ich habe das mit der Ordnung und der Tagesstruktur nicht hinbekommen“ gesteht sie. „Ich hatte keine Ergotherapie und auch kaum soziale Kontakte.“ Doch das ist Vergangenheit: Der Umzug ins Haus am Bruchweg, so schwer ihr dieser zunächst fiel, war für Maxine Glaesmann ein Neubeginn. Jetzt sei sie viel mehr unter Menschen, arbeite mit Unterstützung des Teams konkret an ihrer Zukunft. „Ich fühle mich wohl, ich fühle mich gewollt“, sagt sie mit einem Lächeln. Es ist für sie eine neue Erfahrung.

Auch Thomas Hirt hat diese bereits gemacht, vor geraumer Zeit allerdings: Der heute 36-Jährige war nach einem langen Leidensweg 2009 im Bruchweg eingezogen, hat insgesamt zehn Jahre dort verbracht. Das hatte Gründe: Im Alter von 16 Jahren waren bei ihm psychische Probleme aufgetaucht. „Die ersten Zwangsstörungen und bipolaren Störungen“, wie er ganz offen erzählt. Eine geraume Zeit verbrachte der gebürtige Münchner in der Jugendpsychiatrie. Seine schulischen Leistungen ließen in der Folge extrem nach, dennoch hat er, nach mehreren Umzügen mittlerweile in Rheinland lebend, seinen Schulabschluss geschafft und auch den Führerschein bestanden. Doch 2003, mit 18 Jahren, folgte „der Zusammenbruch“, wie er es nennt.

Die nächsten Jahre waren für Thomas Hirt geprägt von Aufenthalten in mehreren Spezialkliniken, 2007 zog er dann ins Wichern-Haus in Neuss, einer Rehabilitationseinrichtung für Menschen mit psychischer Erkrankung. Im Jahr 2009 dann der Umzug nach Kaarst. Seit dieser Zeit ist Thomas Hirt in den Gemeinnützigen Werkstätten in Neuss tätig, wo er im Versand anfing. Zwar haben sich seine Aufgaben innerhalb der Abteilung zwischenzeitlich geändert, „aber ich habe seit elf Jahren den Arbeitgeber nicht gewechselt“, berichtet er. Welcher 36-Jährige kann das schon von sich behaupten?

Stück für Stück holte sich Thomas Hirt sein Leben zurück. Und so war es für ihn folgerichtig, 2019 von der besonderen Wohnform ins Betreute Wohnen der Graf Recke Stiftung zu wechseln. Sein Apartment liegt gleich nebenan, und doch war es für Thomas Hirt ein großer Schritt. „My home is my castle“, fasst er den größten Unterschied zusammen. Und er hat die Sache im Griff: Er stehe morgens um halb sechs auf, verlasse um halb sieben die Wohnung und mache sich auf den rund einstündigen Weg zur Arbeit. Nach Feierabend erledigt er den Haushalt oder kauft ein, alles kein Thema. „Ich hatte auch immer Kontoverfügung“, macht er deutlich.

So mancher verliert den Überblick

Das war bei Menschen mit psychischer Erkrankung lange Zeit keine Selbstverständlichkeit,  Thomas Hirt war bisher somit eher die Ausnahme. Durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) hat sich das geändert – und stellt für Annette Weirauch die wohl einschneidendste Veränderung der jüngeren Vergangenheit dar. Was für die einen ein Stück Freiheit bedeutet, wird für die anderen schnell zur Überforderung: „Da die Menschen jetzt über ihr Geld verfügen können, haben wir keinen Einblick mehr“, erläutert die Bereichsleiterin der Stiftung im Sozialraum Kaarst. „Da kann es vorkommen, dass der eine oder die andere den Überblick verliert.“

Kai-Uwe Weber, Mitarbeiter im Gruppendienst, kennt das: Bewohner, die in der ersten Woche des Monats all ihr Geld ausgeben, und dann ein Problem bekommen. „Wir nennen sie gerne Quartalsmillionäre“, sagt er mit einem Schmunzeln – und wird schnell wieder ernst: „Im schlimmsten Fall führt das zur Privatinsolvenz“, verdeutlicht er. Zwar haben die Bewohner in Kaarst in der Regel eine gesetzliche Betreuung, mit der man im dauerhaften Austausch stehe, sagt der Bezugstherapeut. Dennoch zeichne sich für eine Klientin im Betreuten Wohnen aktuell ein solcher Fall ab. Die Folge: „Sie wird in ihrem Freiraum wieder gesetzlich eingeschränkt. Dann ist sieben Jahre lang der Deckel drauf“, sagt er.

In solchen Fällen komme man „an die Grenzen der pädagogischen Arbeit“, wie Annette Weirauch sagt. „Wie weit wirken wir auf die Menschen ein?“ Und so tun sich für die Mitarbeitenden neue Tätigkeitsfelder auf. „Verlässlichkeit und Vertrauen sind die Basis“, meint Kai-Uwe Weber. „Aber das war schon immer so.“ Es gehe um die behutsame Beratung des Einzelnen, sagt Annette Weirauch. Immer auch abhängig vom gegenwärtigen Gesundheitszustand. „Ist das neue Bayerntrikot wirklich wichtiger als der Ersatz des kaputten Wäscheständers?“, das seien so Fragen, die man stellen müsse. 

Und doch ist sie sich mit ihrem Kollegen einig, dass die Neuerung insgesamt eine Verbesserung bedeutet: Die Klienten seien nun beispielsweise in der Lage, sich, wie andere, Dinge im Internet zu bestellen. Viele seien jetzt Mitglied im Sportverein oder im Fitnessclub. Bislang wäre die Überweisung des Mitgliedsbeitrags stets über die Betreuung erfolgt. „Und damit war immer auch ein Stigma verbunden.“ Das ist nun Vergangenheit. Nun müsse er eben „den einen motivieren, den anderen in seinem Tatendrang bremsen, je nachdem“, sagt Bezugstherapeut Weber. Er lacht.

Thomas Hirt gehört eher zur zweiten Kategorie – und er weiß das. „Ich nehme mir manchmal zu viel vor“, sagt er. Dann müsse er abwägen, ob der sich lieber mit seiner Freundin treffen, Fußball gucken oder zum Literatentreff gehen soll. Alles ist ihm, der schon mehrfach als Poetryslammer auf der Bühne stand und unter anderem Mitglied im Autorenkreis Neuss ist, eben gleichermaßen wichtig. Und klar, irgendwann soll auch seine seit 2015 entstehende Fantasygeschichte als Buch erscheinen. „Aber das Projekt stockt gerade“, bekennt er.

Es gibt eben jeden Tag Pflichten zu erfüllen. Und doch fühlt sich der 36-Jährige in der eigenen Wohnung einfach „freier und erwachsener“, wie er sagt. Er könne nun selbst entscheiden, ob er Sachen gleich wegräume oder erst am nächsten Tag. „Man darf natürlich nicht zum Messi werden“, meint er und lacht. Noch benötige er von Zeit zu Zeit Impulse von außen, beim „Papierkrieg zum Beispiel, aber das wird immer weniger“. Zudem sei immer jemand in der Nähe, falls es ihm mal schlecht gehen sollte. Allerdings: „Insgesamt läuft es sehr gut, ich war seit zweieinhalb Jahren nicht mehr in der Klinik. Da bin ich stolz drauf.“

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Im Sozialpsychiatrischen Verbund der Graf Recke Stiftung geht es darum, Menschen mit psychischen Erkrankungen Teilhabe zu ermöglichen. Infos gibt es auf der Homepage des Sozialpsychiatrischen Verbunds.
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Über die eigenen Grenzen gehen

Dieses Gefühl kennt auch Maxine Glaesmann, wenngleich sie im Moment noch nicht über das Leben in einer eigenen Wohnung nachdenkt. Sie genießt aktuell die Freundschaft zu einer Klientin aus dem Betreuten Wohnen, das Musik hören in der Gruppe, am liebsten Pop und Klavierstücke. „In Düsseldorf habe ich das alleine gemacht. Hier fühle ich mich zugehörig“, sagt sie. Fremdbestimmt fühlt sie sich im Haus in Kaarst ohnehin nicht: „Hier wird geguckt, wie fit man ist – und dann darf man selber ran“, hat sie festgestellt. In der Ergotherapie wird ihr das besonders bewusst, wo sie derzeit viel mit Holz arbeitet. „Ich fühle mich gefordert, aber nicht überfordert“, meint sie. „Ich kann jetzt auch alleine einkaufen, obwohl ich dachte, ich schaffe das nicht.“

Sie müsse lernen, mit ihrer Krankheit zu leben, das hat die 24-Jährige in den vergangenen Monaten für sich erkannt. „Und über meine Grenzen gehen, auch wenn die Psyche mir etwas anderes sagen will.“ Noch sieht sich Maxine Glaesmann am Anfang, hat aber wieder ein Ziel vor Augen: Über die Arbeitstherapie langfristig in ein Ausbildungsverhältnis zu wechseln, das wäre ihr Wunsch. Und ihre neue Zuversicht kommt nicht von ungefähr: „Ich habe wieder Antrieb und Spaß an Dingen, auch an neuen Dingen“, freut sie sich. Kein Zweifel: Zuweilen kann ein Schritt zurück der erste Schritt nach vorne sein.

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