Raus aus dem Karussell
In einen würfelförmigen Neubau am Johannes- Karsch-Weg in Wittlaer werden im Frühjahr Jugendliche einziehen, die besonders intensive Betreuung benötigen. Anne Hans wird in einer der beiden Wohngruppen des »Cube« die Leitung übernehmen und kann sich beruflich kaum Besseres vorstellen. Im Arbeitsalltag geht es um Nähe, um Vertrauen – und auch mal um Liebeskummer. Das wichtigste Ziel: Den jungen Menschen eine Lebensperspektive bieten.
»Wir nehmen die Jugendlichen erst mal, wie sie sind«, sagt Anne Hans – und beschreibt damit die Grundlage des Konzepts, das sie und ihr Team in der Wohngruppe »Nordstern« in Düsseldorf-Wittlaer verfolgen. Dass dies nicht immer einfach ist, räumt die Diplom- Sozialpädagogin ein, handelt es sich bei den Bewohnerinnen und Bewohnern doch um junge Menschen mit erheblichen sozialen und emotionalen Defiziten. Doch sie und die Verantwortlichen im Fachbereich sind überzeugt, dass diese Herangehensweise zum Erfolg führt. Im neuen Angebot »Cube« der Graf Recke Stiftung soll der Ansatz daher deutlich ausgebaut und vertieft werden. Das Ziel: Die Jugendlichen aus dem »Jugendhilfe-Karussell«, wie Anne Hans es nennt, herauszuholen.
Video: Anne Hans über das Konzept im Wohnwürfel
Damit beschreibt die Teamleiterin den beschwerlichen Weg, den viele der Jugendlichen bereits hinter sich haben: Die jungen Menschen, die laut der Leiterin des zuständigen Fachbereichs der Graf Recke Erziehung & Bildung, Gabriele Trojak-Künne, nicht selten diverse Formen von Gewalt und Vernachlässigung erfahren und dadurch Bindungsstörungen entwickelt haben, werden aufgrund ihrer herausfordernden Art oft von Einrichtung zu Einrichtung gereicht. Dem soll eine neue Angebotsform entgegenwirken: In einem außergewöhnlichen Neubau in Würfelform am Johannes-Karsch-Weg in Düsseldorf-Wittlaer sollen sie einen Platz zum Leben finden – mit Perspektive.
Vertrauensvorschuss für die Jugendlichen
Im Cube wird daher unter anderem eine Wohngruppe mit sieben Plätzen für Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren entstehen, »die mehr brauchen als Pädagogik«, wie Gabriele Trojak-Künne es ausdrückt. Geplant ist, dass die Gruppe Nordstern, in der auf einen Jugendlichen jeweils eine betreuende Fachkraft kommt, hierher umzieht. Neu sei, so die Fachbereichsleiterin, dass zudem eine Fünfer-Wohngruppe sowie ein Einzelapartment entstehen werden, mit jeweils noch höherem Betreuungsschlüssel. In diesen kleinen Settings soll vor allem das Aushalten derer, die gerne als »Systemsprenger« bezeichnet werden, »konzeptionell erleichtert werden«, betont sie.
Die jungen Menschen »aushalten können«, darin liegt auch für Anne Hans der Schlüssel, weshalb die 39-Jährige den Begriff Systemsprenger nicht mag. Aus gutem Grund gebe es in diesem Konzept keinen gesetzten Rahmen, an dem sich die Pädagogik ausrichtet, wie dies in der Jugendhilfe sonst üblich sei. Es sei genau umgekehrt. »Die Jugendlichen bekommen erst einmal einen Vertrauensvorschuss, werden wenig begrenzt, haben Mitspracherecht «, erläutert die Sozialpädagogin. Für die Jugendlichen sei die Gruppe in der Folge nicht einfach eine Wohngemeinschaft, sondern schnell ein Zuhause, in dem sie unbedingt bleiben wollen. »Und dann können wir im Zweifel die Bedingungen dafür neu aushandeln.« Dass dies nicht ohne Reibungen ablaufen kann, liegt auf der Hand und ist eingeplant. Sollte die Situation im Einzelfall aber doch eskalieren, »muss man irgendwann auch an die anderen Mitbewohner denken«, erklärt Anne Hans. Doch genau für solche Situationen biete das Cube künftig Möglichkeiten. »Jeder Mitarbeitende kann einen einzelnen Jugendlichen mal rausnehmen und mit ihm beispielsweise eine Woche wandern gehen«, sagt sie. Der entscheidende Vorteil: »Dadurch verliert er nicht gleich sein Zuhause.«
Ein Würfel wird zur Brücke
Im Apartment des Cube werden vor allem Rückkehrer aus solchen Individualmaßnahmen aufgenommen und dort von der angestammten Betreuungskraft an ein Leben in der Gruppe herangeführt. Diese Durchlässigkeit des Hauses sei das Besondere, betont Fachbereichsleiterin Trojak-Künne, »da sie es ermöglicht, Fort- und Rückschritte individuell aufzufangen und personell konstant zu begleiten«. Dass auf dem Areal in Wittlaer zudem ein Verselbstständigungsbereich sowie die Schulen der Graf Recke Stiftung angesiedelt sind, ist für sie ein weiterer Pluspunkt. In diesem Sinne wird der Würfel zu einer Brücke.
Diese führt künftig unter anderem zur Förderschule I, an der ab Sommer ebenfalls ein neues Angebot installiert werden soll: Im ehemaligen Gymnastikraum der zwischen Cube und Schule gelegenen Turnhalle sollen sich vormittags zwei Fachkräfte um bis zu fünf Bewohner aus den Wohngruppen kümmern. Ziel sei es, »schulpflichtigen, aber derzeit nicht schulfähigen Jugendlichen eine schulische Heimat zu bieten«, erklärt Schulleiter Benedikt Florian. Mit speziell auf sie zugeschnittenen Lern- und Erlebnisinhalten wolle man sie so wieder an den Regelunterricht heranführen, sagt er.
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»Bei der Arbeit bin ich Anne«
Gut möglich, dass es sich dabei um genau die jungen Menschen handelt, für die Anne Hans demnächst in deren Freizeit zuständig ist: Die bisherige Nordstern- Teamleiterin wird diese Aufgabe abgeben und im Cube die Verantwortung in der noch betreuungsintensiveren Fünfer-Wohngruppe übernehmen. Eine Herausforderung, der sie sich mit Freude stellt: »Ich arbeite gern im Intensivbereich «, betont sie – und kann das auch begründen. »Wir arbeiten immer im Doppeldienst und können uns gegenseitig reflektieren«, benennt sie einen der Vorzüge. Da sie sich zudem um weniger Jugendliche kümmern müsse, habe sie für den Einzelnen mehr Zeit.
Dies ist in der Tat auch oft notwendig. Langeweile kenne sie in ihrem Job jedenfalls nicht, »den Kids fällt immer wieder etwas Neues, etwas Wildes ein«, erzählt Anne Hans mit einem Lachen, ohne Details verraten zu wollen. Aber es sei schon so, dass ihr die Jugendlichen viel erzählen, »jedes Problem mit der Mama und jeden Liebeskummer«. Eine solche Aufgabe erfordere Nähe und Vertrauen. Für sie sei deshalb klar: »Bei der Arbeit bin ich Anne, mit meiner ganzen Persönlichkeit«, sagt sie. »Aber ich darf nichts davon mit nach Hause nehmen.«
Diesen Spagat hinzubekommen, dabei hilft ihr heute ihre Erfahrung: Seit 2014 ist Anne Hans bereits als Teamleiterin in verschiedenen Wohngruppen in Hilden und Düsseldorf für die Stiftung tätig gewesen, bevor sie 2019 die neu gegründete Nordstern-Gruppe übernahm. Am Anfang allerdings war das nicht immer so einfach, wie sie verrät. Und deshalb hat sie für alle, die sich für die Arbeit in den Intensivgruppen im Cube interessieren und dabei Neuland betreten sollten, zwei Tipps parat.
Anfänglich habe es ihr geholfen, sich zu Hause umzuziehen, erinnert sich Anne Hans. »Einfach um Beruf und Privates klar zu trennen.« Heute sei das für sie nicht mehr nötig. Eine andere Gewohnheit hat die 39-Jährige hingegen beibehalten: Sollten ihr auf dem Weg nach Hause noch berufliche Dinge in den Sinn kommen, hält sie diese Gedanken direkt nach ihrer Ankunft in einem stets im Auto liegenden Block fest. Ihre wichtigste Regel: »Der Block kommt mir nicht ins Haus.«
Der Block kommt mir nicht ins Haus.