Näher am Grafen als je zuvor
Erziehungswissenschaftler Holger Wendelin hat sich zum 200. Geburtstag intensiv mit der Geschichte der Heimerziehung und der Graf Recke Stiftung befasst. Michael Mertens leitet seit 2012 die Graf Recke Erziehung & Bildung. Im Rückblick auf zwei Jahrhunderte, vom Rettungshaus für verwahrloste Kinder bis zur heutigen Jugendhilfe der Graf Recke Stiftung, entdecken die beiden Kontinuitäten und Brüche – und einiges, was es zu bewahren gilt.
An einem Punkt sei die Arbeit der Graf Recke Erziehung & Bildung heute näher an der Idee des Grafen von der Recke als jemals zuvor, sagt Holger Wendelin, Professor an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum: »Was der Graf wollte, war ja im Prinzip eine Alternative zu den staatlichen, großen und repressiven Korrektionsanstalten. Er wollte etwas schaffen, wo die Kinder und Jugendlichen auch individuell und als Kinder wahrgenommen werden, wo sie Entfaltungsmöglichkeiten und einen Ort für ein gutes Aufwachsen haben.« Darüber hinaus, so der Erziehungswissenschaftler, der auch Mitglied im Aufsichtsrat der Graf Recke Stiftung ist, habe Graf von der Recke »die Familie als den Ort des gesunden Aufwachsens gesehen und versucht, seine Arbeit am Familienprinzip zu orientieren«. Und das sei ja etwas, was auch in den heutigen Wohngruppen geschehe: »Wir versuchen, möglichst private und positive Lebensorte zu schaffen, nicht Institutionen oder gar eine Anstalt.«
Vom Grafen Adelbert von der Recke-Volmerstein und seiner Gründung der »Gesellschaft der Menschenfreunde zur Rettung und Erziehung verlassener Waisen und Verbrecher-Kinder« bis zur modernen Kinder- und Jugendhilfe in der heutigen Graf Recke Erziehung & Bildung: Dazwischen liegen zwei bewegte Jahrhunderte, die Holger Wendelin zum 200-jährigen Bestehen der Graf Recke Stiftung in seinem Beitrag »Rettungshaus, Anstalt, Stiftung – 200 Jahre Heimerziehung im Spiegel der Graf Recke Stiftung« beschreibt, der im Laufe des Jahres veröffentlicht wird.
»Das Engagement des Grafen lebt auch in der Gegenwart weiter«, findet Michael Mertens, Leiter der Graf Recke Erziehung & Bildung. »Das zeigt sich, indem wir T-Shirts mit der Aufschrift ›Social Work since 1822‹ tragen und stolz sind, ein Recke zu sein.« Auch das Jubiläumsmotto »Mit dem Herzen dabei« transportiere eine »hohe Identifikation mit dem Wirken des Grafen, auch wenn die wenigsten dazu ein Detailwissen haben«, sagt er. Aber jeder habe eine Vorstellung davon, dass der Graf ein sozial engagierter Mann gewesen sei, der aus seinem Selbstverständnis heraus Menschlichkeit in einer ganz besonderen Weise praktiziert habe. »Und dieses Bild trägt!«
Es trägt auch durch Brüche und Tiefen der 200-jährigen Geschichte. Da ist zum einen die dunkle Seite der Gründerjahre. Der von der christlichen Erweckungsbewegung inspirierte Graf von der Recke vertrat und praktizierte den historischen Erkenntnissen zufolge eine harte Erziehung. Dies einfach den damaligen Zeiten anzurechnen, sei zu kurz gegriffen, meint Erziehungswissenschaftler Wendelin. »Es gab auch schon zu Zeiten des Grafen Stimmen, die es vollkommen anders gesehen haben.« Und gerade die Rettungshausbewegung habe körperliche Strafen eigentlich abgelehnt. Doch selbst ein sehr fortschrittlicher Zeitgenosse des Grafen von der Recke habe es gar nicht viel anders gesehen als dieser, berichtet Wendelin und zitiert den Reformpädagogen Johann Heinrich Pestalozzi sinngemäß: Der Vorsatz, Kinder ohne Gewalt zu erziehen, sei zwar ein schöner, aber nicht bei allen Kindern umsetzbar.
Michael Mertens
Im Streit um den richtigen Weg in der Heimerziehung habe es immer wieder Stimmen und Vertreter gegeben, die eine Gewaltfreiheit in der Erziehung gefordert haben, erklärt Wendelin. »Aber die waren immer in der Minderheit, der Mainstream war gewaltvoll, und im Mainstream hat sich die Graf Recke Stiftung bewegt.« Die Graf Recke Stiftung habe sich erst mit Verkauf des Dreiflügelhauses, eines riesigen Heimkomplexes in Düsseldorf-Wittlaer, Anfang der 1990er-Jahre konsequent vom Anstaltskonzept wegbewegt und auf kleinere, familienähnliche Wohngruppen und Außenwohngruppen gesetzt.
Graf von der Recke-Volmerstein jedoch war mit seinem »Rettungsgedanken aus dem zeitlichen und ewigen Verderben « Vorreiter und Vorbild: »Die Gründung des ersten Rettungshauses durch den Grafen von der Recke hat sehr positiv Schule gemacht«, meint Wendelin. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden zahlreiche konfessionelle Einrichtungen. Der Staat dagegen hielt sich in der Erziehung noch lange Zeit zurück.
Einen wichtigen Wendepunkt identifiziert der Bochumer Erziehungswissenschaftler am Ende des 19. Jahrhunderts: die Einführung des Zwangserziehungsgesetzes. »Erziehung war bis dahin Privatsache, jetzt übernahm der Staat ein Wächteramt und er baute auch eigene Anstalten auf.« Doch gerade im Rheinland wurden zugleich die bestehenden, fast ausschließlich konfessionellen Anstalten gestärkt. Zur Vermeidung teurer Neugründungen erhielten diese nun einen offiziellen staatlichen Auftrag samt finanzieller Mittel.
Holger Wendelin
Der hehre Gedanke des Grafen fiel dieser Entwicklung zum Opfer, sagt Holger Wendelin: »Es fand ein Wandel statt vom Rettungshaus hin zur großen Anstalt mit einer latent gewaltvollen Anstaltserziehung, gegen die die Rettungshausbewegung eigentlich angetreten war!« Folgerichtig wurde das Rettungshaus Düsselthal, das der Graf 1848 per kaiserlichem Statut auf unabhängige Füße gestellt und an seinen Nachfolger abgegeben hatte, in Düsselthaler Anstalten umbenannt. Ein Name, der sich bis 1983 halten sollte – und lange Zeit war auch noch drin, was draufstand.
Die aktuelle recke:in
200 Jahre Graf Recke Stiftung: Darum geht es in der aktuelle Ausgabe unseres Unternehmensmagazins recke:in. Die digitale Version können Sie hier lesen.
Mehr erfahren
»Bestimmt gehörte die Graf Recke Stiftung zu den letzten Einrichtungen, die geschlossene Systeme abgebaut hat«, sagt Michael Mertens. »Da haben sich andere viel früher positioniert.« Vor der großen Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes 1990 sei gerade die Graf Recke Stiftung noch sehr häufig im Sinne der Fürsorgeerziehung, also von Zwangsmaßnahmen, belegt worden, mit richterlichem Beschluss in überwiegend noch geschlossener Form. »Ich selber war damals als Sozialarbeiter in Ausbildung im Jugendamt Gummersbach«, berichtet Mertens, seit 2012 Leiter der Graf Recke Erziehung & Bildung. Er erinnert sich, selbst mit Polizei und Gerichtsvollzieher einen Jugendlichen aus seiner Familie geholt zu haben. Eine Erinnerung, die ihm bis heute nachgehe, so der Geschäftsbereichsleiter. So ist es Generationen von Erzieherinnen und Erziehern gegangen, die »mit dem Herzen dabei« waren, aber zwangsläufig gesellschaftlichen und gesetzlichen Rahmenbedingungen unterworfen waren. Die große Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes von 1990 riss die Fenster der Anstalten weit auf und sorgte für frischen Wind.
Und so ist es ein großer Bogen vom Grafen, der dem einzelnen jungen Menschen, so Wendelin, »einen Ort geben und ihm gerecht werden wollte«, bis heute. Und doch schließt er sich in gewisser Weise, bezogen auf diese individuelle Förderung der Kinder und Jugendlichen.
Überschneidung von Lebenswelten
Und es gibt noch etwas Vergangenes, an dessen Verlust Holger Wendelin zumindest mit Ambivalenz zurückdenkt: die frühere »Residenzpflicht« für Erzieherinnen und Erzieher, also das Gebot, dass Mitarbeitende am Ort ihrer Arbeit auch leben mussten. »Auch wenn es sehr gute und gewichtige Gründe gab, sie abzuschaffen, so hatte sie ganz sicher Vorteile in dem Sinne, dass die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen und ihrer Betreuenden sich mehr überschnitten hat.« Michael Mertens sieht es ähnlich: »Wir hatten noch bis vor weniger als 20 Jahren Familiengruppen in der Graf Recke Stiftung, aber irgendwann auch keine Menschen mehr gefunden, die bereit waren, diese Betreuungsform zu leben.«
Heute, so Mertens, »decken Profis im Schichtdienst das Leben der Kinder und Jugendlichen ab«. Teamgespräche bei der Übergabe, Patenschaften und Schwerpunkterzieher stellen auch heute eine hohe Beziehungsqualität sicher, so Mertens: »Aber natürlich ist stationäre Erziehungshilfe immer auch ein Kompromiss für unsere Kinder und Jugendlichen. Sie hätten wohl alle lieber eine intakte Familie.«
Bunter geworden
Andererseits, so Mertens, habe Familie sich verändert, sei bunter geworden und längst nicht mehr auf ein Mutter- Vater-Kind-Schema beschränkt. »Und auch wir haben uns weiterentwickelt – von der familienersetzenden hin zu einer familienunterstützenden Hilfe. Wir wollen nicht in Konkurrenz zu den Eltern treten, sondern sie begleiten und stärken.« Und das, so Michael Mertens, »machen unsere Mitarbeitenden heute mit viel Engagement und Herz«.