Erfahrung und Potenzial
Seit Herbst 2023 studieren erstmals vier Inklusionskräfte aus dem Familien unterstützenden Dienst (FuD) berufsbegleitend Sozialarbeit/Sozialpädagogik. Möglich macht dies eine neuartige Kooperation mit der Hochschule Düsseldorf (HSD), die notwendigen Praxismodule finden innerhalb der Graf Recke Stiftung statt. Für die Studierenden eröffnen sich dadurch ganz neue berufliche Perspektiven. Und die Stiftung sichert sich Fachkräfte für die Zukunft.
Für Stephanie Wolny ist es „ein unfassbares Glück“, für Enver Yün „genau das, was ich wollte“. Was die beiden Inklusionsassistenten des Familien unterstützenden Dienstes (FuD) der Graf Recke Stiftung so begeistert, ist ihr berufsbegleitendes Studium der Sozialarbeit/Sozialpädagogik an der Hochschule Düsseldorf (HSD), das sie zum Wintersemester 2023/24 aufgenommen haben. Möglich wurde dies durch eine neuartige Kooperation der Stiftung mit der Hochschule, die sich letztlich für alle Seiten auszahlen soll.
„Wir haben unter unseren Inklusionsbegleiterinnen und -begleitern so viel Potenzial und auch Erfahrung, das müssen wir einfach nutzen“, findet Philipp Heimansfeld. Er ist als Fachberater im FuD nicht nur für die Koordination des Projekts zuständig, von ihm stammt auch die Idee zur Kooperation. Das ist kein Zufall: Heimansfeld hat selbst an der HSD studiert und gibt dort seit drei Semestern, ebenfalls nebenberuflich, Seminare im Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften. Darüber hinaus sehe er sich nicht allein als Fachberater, sondern „auch als Personalentwickler“ – womit er bei Jan Pickhardt offene Türen einrannte.
Kontakt zu allen Fachbereichen
Pickhardt ist Fachbereichsleiter im FuD, zudem stellvertretender Geschäftsbereichsleiter Bildung, und sieht das mit dem Potenzial unter den aktuell 1520 Inklusionskräften in der Graf Recke Stiftung ganz genauso. „Wir haben viele Quereinsteiger“, macht er deutlich. Und viele wollten sich beruflich weiter qualifizieren. Daher unterstütze man Interessierte schon immer, wenn sie sich etwa im Selbststudium auf eine externe Fachprüfung vorbereiten, um dadurch in eine höhere Gehaltsstufe aufzusteigen, sagt er. Ein nebenberufliches Hochschulstudium allerdings ist noch einmal eine andere Nummer, insbesondere die erforderlichen Praktika stellten bislang eine Herausforderung dar.
Doch genau diese mache man nun intern möglich, sagt Philipp Heimansfeld. Im Rahmen des Studiums seien ein Vorpraktikum vorgeschrieben sowie ein sechswöchiges Praxismodul, auch berufsbegleitend keine allzu großen Hürden. „Die große Aufgabe ist das Modul zur staatlichen Anerkennung, das circa ein halbes Jahr umfasst. Als reine Inklusionstätigkeit wäre das nicht gegangen“, sagt der Koordinator. Und genau dafür habe man nun ein Modell entwickelt, das den Anforderungen entspricht. „Wir haben das Glück, mit den zahlreichen Fachbereichen der Stiftung kooperieren zu können“, erläutert Jan Pickhardt. „Die Studierenden sagen uns, was sie interessiert, und wir stellen den Kontakt her.“ Das kann etwa die Mitarbeit in einer Wohngruppe der Jugendhilfe sein oder eine koordinierende Tätigkeit im Hauptstandort des FuD Nord in Ratingen. Vieles ist denkbar.
Die Studierenden sagen uns, was sie interessiert, und wir stellen den Kontakt her.
Ein nicht unwesentlicher Punkt dabei: Die Studierenden werden für das Praxissemester genauso freigestellt wie für Blockseminare und auch weiter vergütet; auch die Semestergebühren trägt die Stiftung. „Dadurch müssen die Teilnehmer keine finanziellen Einbußen hinnehmen“, betont Jan Pickhardt. „Wir haben viele, die nicht mehr Anfang 20 sind. Da will oder kann man nicht mehr fürs Studium in eine WG ziehen und einen Kellnerjob annehmen.“ Und daher sollen die Studierenden auch keinen Druck verspüren, in der Regelstudienzeit ihren Abschluss machen zu müssen.
Sich selbst weiterentwickelt
Stephanie Wolny selbst legt die Latte hingegen freiwillig hoch: Zwölf Semester seien bis zum Bachelor eigentlich vorgesehen, sie wolle es in sechs bis acht Semestern schaffen, sagt sie, die zu den ersten vier Projektteilnehmern gehört. Sicherlich, dadurch habe sie derzeit „im Prinzip zwei Vollzeitjobs, das ist unfassbar anstrengend“, bekennt die 45-Jährige. „Aber ich weiß, was ich davon habe, und das motiviert mich.“ Bis heute kann sie nämlich noch immer nicht recht glauben, dass sie nun eine echte Studentin ist, auch ohne Abitur.
Wolny hat einst Kinderpflegerin gelernt und zunächst in Kitas gearbeitet. Vor 15 Jahren war die Mutter eines mittlerweile erwachsenen Sohnes dann in die Inklusionsbegleitung gewechselt, nachdem sie privat den autistischen Sohn einer Freundin in der Freizeit begleitet hatte und das wunderbar funktioniert habe. „Seitdem bin ich I-Hilfe“, sagt sie und lächelt. Über viele Jahre hatte sie etwa ein Mädchen mit geistiger Behinderung begleitet, bis hin zum Hauptschulabschluss. „Heute ist sie in der Ausbildung zur Garten- und Landschaftsbauerin. Das finde ich toll.“
Seit zwei Jahren arbeitet Stephanie Wolny nun bei der Graf Recke Stiftung, hat verschiedene Kinder an Schulen im Großraum Düsseldorf begleitet. „Ich habe Schüler bekommen, die mich jeweils anders gefordert haben, und mich dadurch selbst weiterentwickelt“, berichtet sie. Sie habe das Zeug zur Sozialpädagogin, das sei ihr von mehreren Seiten immer wieder gesagt worden. Das habe sie bestärkt, und daher habe sie eines Tages entschieden: „Ich mache das jetzt – aber so einfach ist das nicht“, wie sie feststellen musste. Überall habe sie nach Möglichkeiten für ein Studium angefragt, ihr Name sei irgendwann wohl in jedem Büro im FuD bekannt gewesen, erzählt sie. „Und dann kam eines Tages tatsächlich der Anruf. Das war für mich die absolute Erlösung“, erinnert sie sich. „Ich habe Rotz und Wasser geheult, mein Sohn hat geglaubt, es sei jemand gestorben.“
„Ich habe sofort zugesagt“
Enver Yün kann den Gefühlsausbruch seiner Kollegin nachvollziehen: Auch er mag seine Arbeit als Inklusionsbegleiter sehr, keine Frage. Der gelernte Einzelhandelskaufmann mit Weiterbildung zum Handelsfachwirt hatte sich 2021 bewusst für einen beruflichen Neuanfang entschieden. Davor war er für seinen früheren Arbeitgeber viel unterwegs, arbeitete in Stuttgart, Frankfurt, Kassel. „Dann kam Corona und ich habe gespürt: Ich will das nicht mehr.“ Seine Frau sei Lehrerin, durch sie habe er von den Inklusionsbegleitungen an Schulen erfahren und sich daraufhin bei der Stiftung beworben. Mit Erfolg.
Der 35-Jährige war seitdem an verschiedenen Schulen im Einsatz, begleitet aktuell einen Jungen an einer Grundschule. Bereut hat er seine Entscheidung nie. „Der Beruf ist sehr abwechslungsreich“, meint Enver Yün. Und doch will er sich auch persönlich weiterentwickeln, beruflich vorankommen, daraus macht er kein Geheimnis. Und dann sei irgendwann Phillip Heimansfeld auf ihn zugekommen und habe ihm von der Möglichkeit eines Studiums berichtet. Er strahlt: „Ich habe sofort zugesagt.“
Nun sind Stephanie Wolny und Enver Yün also auch noch Kommilitonen, mittlerweile im zweiten Semester. Für beide läuft es gut. Nur kurz habe sie Angst vor der eigenen Courage gehabt, sagt Stephanie Wolny. „Inzwischen finde ich es super.“ Er mache sich jetzt keinen Druck, „aber ich weiß, dass ich das schaffen werde“, ist Enver Yün überzeugt. Daran hat Fachbereichsleiter Jan Pickhardt ebenfalls keinen Zweifel, die Studienleistung aller sei „beeindruckend, da steckt eine Menge Engagement und Enthusiasmus drin“.
Perspektive innerhalb der Stiftung
Dass der FuD dadurch mittelfristig wohl die eine oder andere Inklusionskraft verlieren wird, nimmt Jan Pickhardt gerne in Kauf. Ihm gehe es darum, die Stiftung voranzubringen, betont er. Daher gehe er in den Austausch mit den anderen Fachbereichsleitungen, damit für alle Absolventen nach dem Bachelor eine Perspektive gesichert ist, ob diese nun im FuD, in der Sozialpsychiatrie oder der Jugendhilfe liegen wird. Stephanie Wolny findet diese Aussicht „beruhigend“. Enver Yün wird noch deutlicher. „Jetzt kann ich mir gut vorstellen, zu bleiben“, sagt er. „Ich hätte sonst wohl irgendwann einen Cut gemacht.“