Mido macht sein Ding

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Mido Kotaini ist der Aladin im aktuellen Kinoerfolg "Chantal im Märchenland". Doch die wahre Geschichte des jungen Syrers erscheint kaum weniger märchenhaft. Seine Anfänge als 14-Jähriger alleine in einem fremden Land sind eng mit der Graf Recke Stiftung verknüpft. Das hat er auch im Moment seines bislang größten Erfolgs nicht vergessen. Ein Treffen an einem Ort, an dem der junge Mido in Deutschland erstmals zur Ruhe kam.

Mido Kotaini sitzt auf dem Sofa im Wohnzimmer der Wohngruppe Mathilde und strahlt. "Es war so mega, die ganzen Leute und Betreuer von damals im Kino wiederzusehen", erinnert sich der 22-Jährige an den Abend vor elf Tagen, als fast 300 Jugendliche und Mitarbeitende aus Wohngruppen der Graf Recke Stiftung in den UFA-Palast am Düsseldorfer Hauptbahnhof strömten. Dort erlebten sie einen Kinoabend, den sie ganz sicher nicht vergessen werden. Nicht nur wegen der exklusiven Einladung zur Vorstellung des aktuellen Kinoerfolgs "Chantal im Wunderland". Sondern vor allem, weil auch einige Stars des Films zugegen waren und sich im Anschluss an die Vorführung viel Zeit für ihre Gäste nahmen: Gizem Emre, Max von der Groeben, Regisseur Bora Dagtekin. Und: Mido.

Denn auch Mido ist jetzt Star. "Das war meine größte Rolle in einem Kinofilm", sagt er. An der Seite der berühmten „Fack ju Göhte“-Protagonisten und weiterer bekannter Filmgrößen wie Nora Tschirner, Frederick Lau, Alexandra Maria Lara oder Elyas M'Barek spielt er die Rolle des Aladin, in den sich die Protagonistin Chantal alias Jella Haase verguckt.

Doch im Moment seines bislang größten Erfolgs hat Mido seine Anfänge in Deutschland nicht vergessen. Vor allem nicht die Menschen, die ihn damals begleitet haben. Das war der Grund, weshalb Mido mit der Produktionsfirma Constantin Film diese Sondervorstellung im UFA-Palast für die Graf Recke Stiftung organisiert hatte.

Durch dunkle Zeiten

Denn bevor Mido ins Kino-Rampenlicht trat, ist er durch eine dunkle Zeit gegangen. 14 Jahre alt war er, als er nach Deutschland kam. Ohne seine Eltern, allein auf sich gestellt. Nach einer Odyssee durch ein fremdes Land war die Mathildenstraße, eine Wohngruppe der Graf Recke Stiftung in Düsseldorf-Düsseltal, der erste Ort, an dem er zur Ruhe gekommen sei, sagt Mido heute.

"Ich hatte eine schöne Kindheit in Syrien", sagt Mido. Als sich seine Eltern trennten, wuchs er mit seiner Mutter, seiner Schwester und seiner Oma auf. "Zusammen mit drei Frauen, das war ganz witzig", erinnert sich Mido. Bis der Krieg in Syrien begann. Seine Eltern entschieden: Mido muss raus aus diesem Land. Seine Mutter habe ihn noch zum Flughafen nach Beirut im Libanon gebracht, erzählt Mido. Dann war er allein.

Ich hatte eine schöne Kindheit in Syrien.

Mido Kotaini

In Düsseldorf wurde Mido von einem Onkel in Empfang genommen, berichtet er. "Dort konnte ich aber nicht bleiben." Weiter ging es, jetzt nach Blankenburg im Harz. "Ich wurde einem Flüchtlingscamp zugeteilt, eine Massenunterkunft. Ich habe mein Zimmer mit Leuten geteilt, die viel, viel älter waren als ich."

Vier Monate sei er dort gewesen, sagt er. Keine Ahnung habe er gehabt, was auf ihn zukommt. Mit seiner Mutter sei er ständig in Kontakt gewesen. "Aber ich konnte ihr nicht erzählen, dass es mir schlecht geht." Man könnte meinen, dort hat Mido sein schauspielerisches Talent entwickelt: "Ich habe ihr berichtet, wie toll hier alles ist, damit sie nicht traurig ist." Aber es war wohl vor allem ein Schutz, auch für sich: "Ich habe mir die Zeit selbst schöngeredet." Anders wäre es wohl nicht gegangen.

Null Erwartungen

Zurück nach Düsseldorf kam Mido über eine Zwischenstation in der Ludwig-Beck-Straße an. Das war Heiligabend 2016. In einem viergeschossigen Haus betrieb die Graf Recke Stiftung zu dieser Zeit mit drei anderen sozialen Trägern eine Aufnahmestelle für junge unbegleitete Geflüchtete (siehe Infokasten). Rückblickend sagt Mido: "Ich hatte null Erwartungen, dachte mir immer: Egal, dann ist es eben so."

Allein in einem fremden Land

Schauspieler werden die wenigsten – aber wie Mido Kotaini, so haben auch andere unbegleitete minderjährige Geflüchtete auch mithilfe der Graf Recke Stiftung ihren Weg in einem neuen fremden Land gemacht. Hier einige Geschichten über unbegleitete Minderjährige, die nach ihrer Flucht bei der Graf Recke Stiftung Obhut fanden, sowie die sie begleitenden Mitarbeitenden aus früheren Jahren. Ein Bericht aus der Ludwig-Beck-Straße, in die Mido Heiligabend 2016 kam, findet sich in der Geschichte "Alaa lässt sich nicht beirren".

Harun, Chinonso und der Blick nach vorn (recke:in 2/2015)
Und manchmal fließen auch Tränen (recke:in 4/2015)
Alaa lässt sich nicht beirren (reckeIn 1/2017) 
Harun und Chinonso - ein Wiedersehen (recke:in 1/2018)

Im Mai 2017 zog Mido in die Mathildenstraße: "Da konnte ich erstmals richtig abschalten." Nicht nur, weil er endlich, nach all den Wechseln und den Massenunterkünften, endlich ein ruhigeres Umfeld und sogar ein eigenes Zimmer hatte. Sondern auch wegen Menschen wie Doris Appel-Hofmann.

Die Erzieherin sitzt neben Mido im Wohnzimmer der Gruppe, in die der junge Syrer für das Interview gekommen ist. Sie habe den jungen Mido von Anfang an in ihr Herz geschlossen, sagt sie. "Mido war immer dankbar für alles, nie abgehoben." Natürlich sei es auch in der Mathildenstraße nicht einfach gewesen. "Wenn es dir nicht gut ging, ist es dir schwergefallen, zu sprechen", erinnert Doris Appel-Hofmann Mido. "Oder du hast es überspielt mit albern sein."

Mido, der Schauspieler.

Mido war immer dankbar, nie abgehoben.

Doris Appel-Hofmann

Aber mit der Mathildenstraße begannen bessere Zeiten, das steht fest für Mido: "Vor allem mit Doris hatte ich ganz engen Kontakt", sagt er. "Ich habe sie angeguckt und sie wusste, wie ich mich gefühlt habe." Über Doris Appel-Hofmann und Eva Kindler, eine Kollegin, sagt er: „Sie sind meine Ersatzeltern, ihnen habe ich immer alles erzählt und mich bei ihnen so wohl gefühlt." Dass er die beiden einmal als Filmschauspieler zu einer Kino-Sondervorstellung für die Graf Recke Stiftung einladen würde – eine fast absurde Vorstellung aus damaliger Sicht.

Die Mathildenstraße sei damals eine Wohngruppe ausschließlich für so genannten UMA gewesen: unbegleitete minderjährige Ausländer, erzählt Doris Appel-Hofmann. Es war die Zeit des „Wir schaffen das“ der Bundeskanzlerin Merkel. Damals waren es 21 „UMA“. Heute noch drei, sagt die Erzieherin.

Für Mido begann in der Mathildenstraße ein neuer Abschnitt. Von nun ging es stetig bergauf, wenn auch nicht ohne Rückschläge, wie Doris Appel-Hofmann und ihr Schützling übereinstimmend berichten – von strapaziösen Behördengängen. Von Heimweh und auch Zeiten der Wut. Von einer Schule, die ihm auf dem Weg zum Abi Steine in den Weg gelegt habe. Wo man ihm gesagt habe: "Du machst mal schön eine Ausbildung."

Doch Mido wechselte ans Theodor-Fliedner-Gymnasium in Kaiserswerth. Er habe sein Ding gemacht, sagt Mido rückblickend. "Egal, was andere sagten."

Oscarreif: Mido Kotaini und Doris Appel-Hofmann

Es sei denn, diese anderen waren seine Eltern oder seine Ersatzeltern. "Meine Eltern haben gesagt, ich solle so lange wie möglich in der Schule bleiben." Dann schaut er zu Doris Appel-Hoffmann und ergänzt: "Das war klar für uns."

Ich bin auch neu

Uns – Midos "Ersatzmutter" hat wohl einen gehörigen Anteil an dem, was aus Mido geworden ist. Was Doris Appel-Hofmann sagt, hat für Mido Gewicht. Die Erzieherin ist seit 1977 im Job, zunächst in der DDR, bevor es nach der Wende nach Krefeld gegangen sei, berichtet die 63-Jährige, eine ebenso schmale wie gradlinige Person, die kein Blatt vor den Mund nimmt. Bei der Sondervorstellung im UFA-Palast erinnert sie ihren Schützling vorm gesamten Saal daran, dass sie manches Mal bei seiner Lehrerin antanzen musste und Midos Hausaufgaben auch schon mal aus ihrer Feder stammten. Da hatte sie die Lacher auf ihrer Seite. Doch dort im Kino, nach dem Film, berichtete sie auch von einer anderen Erinnerung: Sie sei damals selbst gerade neu in die Wohngruppe gekommen. Und da habe ihr ausgerechnet Mido Mut gemacht und gesagt: „Das ist nicht so schlimm. Ich bin auch neu. Wir helfen uns gegenseitig."

Am Fliednergymnasium machte Mido sein Fachabitur. Mit 18 zog er aus der Wohngruppe Mathildenstraße in ein Apartment in Wittlaer, ins "sozialpädagogisch betreute Wohnen", dem nächsten Verselbständigungsschritt. Im Fußballverein bei TV Grafenberg hatte Mido schon zuvor auch Freunde außerhalb der Wohngruppe kennengelernt. Fußballprofi zu werden gehörte nicht zu seinen Träumen. "Nein, dafür war ich zu schlecht, und die anderen auch", lacht er. "Aber wir hatten sehr viel Spaß und es war eine coole Zeit."

Mido hatte ohnehin schon einen anderen Traum. Erstmals in den Sinn gekommen sei ihm das bei einem Spaziergang mit Said, einem weiteren, für Mido sehr wichtigen Erzieher. "Der hat mich nach meinem Traumjob gefragt. Und da habe ich gesagt, ich möchte Schauspieler werden. Aber das ist unmöglich, ich kann die Sprache nicht und ich kenne die Menschen nicht."

Coole Zeit: Mido Kotaini in der Mathildenstraße

Und da habe Said gesagt: "Wenn du das durchziehst, an deinem Traum festhältst, und wenn du deutsch lernst, dann kannst du es schaffen.“ „Das war mein Antrieb", sagt Mido.

Mathilde

Der Weg zu Midos alten Wohngruppe führt über Graf-Recke-Straße in die Mathildenstraße. Die beiden Straßen zwischen Düsseltal und Grafenberg tragen die Namen des Stiftungsgründers und seiner Frau. Die Wohngruppe, in der Mido Kotaini nach seiner Flucht erstmals zur Ruhe kam, trägt also den Namen der Frau, die einen ganz erheblichen Anteil am Bestehen der heutigen Graf Recke Stiftung hat. Einen Abriss der Stiftungsgeschichte gibt es hier auf der Seite zum 200-jährigen Bestehen der Graf Recke Stiftung:

200 Jahre Graf Recke

Eines Tages sei er zu ihr gekommen, berichtet Doris Appel-Hofmann, und habe erklärt, er wolle Theater spielen. "Da habe mich an den Laptop gesetzt und TASK gefunden." TASK ist eine Schauspielschule für Kinder und Jugendliche im benachbarten Stadtteil Grafenberg. Einige warnten Mido, hielten dessen Berufswunsch für Spinnerei. Doris Appel-Hoffmann nicht. Ihre Arbeit mit den jungen Menschen sei für sie immer ein Umgang auf Augenhöhe, sagt sie. Das sei ihr ganz wichtig.

Schauspielschule und Theater-AG in der Schule waren für Mido keine reine Freude, schon deshalb, weil er jedes Mal der einzige Junge gewesen sei. Doch vom Leiter der Schul-AG habe er viel Zuspruch und Ermutigung erhalten – und die Theaterlehrerin der TASK-Kinder-Schauspielschule, Philine Bührer, habe sich noch viel später an ihn erinnert: "Zwei Jahre später hat sie angerufen und gesagt: Ich hab' ein Casting für dich!" Dieser erste Anlauf habe zwar nicht geklappt, doch seine ehemalige Lehrerin blieb hartnäckig. "Ich glaube trotzdem an dich", habe Philine Bührer gesagt, freut sich Mido. Und sie vermittelte ihn an eine Schauspielagentur.

Tatsächlich erhielt Mido bald darauf seine erste Rolle in der ARD-Comedyserie "Almania". Danach kamen immer mehr Anfragen für den Jungschauspieler, von einer Organspende-Werbung bis zu bekannten TV-Formaten wie "Rentnercops" oder dem Sonntagabend-Flaggschiff "Tatort" reichen seine Auftritte. Doris Appel-Hofmann ist es inzwischen gewohnt, dass Mido ihr ständig "aus dem Fernseher entgegengesprungen kommt". Einen Oscar würde sie ihm verleihen, hatte Doris Appel-Hofmann bei der Kinovorstellung gesagt. "Aber nicht für deine Auftritte. Sondern für den Bewohner der Mathildenstraße."

Einer von ihnen

Auch Mido spricht heute nicht zuerst von seinem beruflichen Erfolg, sondern von seinen Anfängen: "Ich bin so dankbar für das, was hier passiert ist." Die Mitarbeitenden der Graf Recke Stiftung haben einen guten Job gemacht, meint Mido. "Ich weiß, wie schwierig ihre Arbeit ist." Für die jungen Menschen, die er in den Wohngruppen getroffen hat und für alle die, die in der Jugendhilfe der Graf Recke Stiftung leben, hat er auch eine Botschaft: "Ich bin einer von ihnen. Und ich möchte ihnen sagen, dass unsere Lebensumstände nicht unseren Traum bestimmen dürfen! Wichtig ist, dass man immer weiterkämpft. Ich hoffe, dass meine Geschichte viele inspiriert."

Und wie geht es weiter? Auf Midos Gesicht breitet sich das strahlende Lächeln aus, das derzeit so viele Kinozuschauer bezaubert: "Ich genieße gerade diese Zeit, lasse es auf mich zukommen und freue mich ganz doll auf die Zukunft." 

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