Lebensqualität für alle Seiten

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Im neuen Graf Recke Quartier Neumünster werden insgesamt 16 Menschen mit Behinderung einziehen. Es entstehen dort vier Einzelwohnungen und drei barrierefreie Wohngemeinschaften. Der Selbsthilfeverein Lichtblick e.V. und die Graf Recke Stiftung haben das Wohnprojekt gemeinsam konzipiert. Unterstützt werden die überwiegend jungen Bewohner in ihrer Selbstständigkeit durch einen ambulanten Dienst. Der Bedarf für eine solche Wohnform ist groß, es gibt bereits eine Warteliste.

Auf insgesamt 9.000 Quadratmetern Fläche entsteht derzeit das Graf Recke Quartier Neumünster. Im inklusiven Wohnquartier werden unter anderem auf stationäre oder ambulante Versorgung angewiesene Seniorinnen und Senioren sowie demenziell erkrankte Menschen ein neues Zuhause finden. Dazu kommen jedoch auch 16 überwiegend junge Menschen mit Behinderung. Für Kersten Andresen, Rabea Ahrens und Jürgen Büstrin ist das ein Glücksfall. Oder vielmehr: ein Lichtblick.

Lichtblick e.V., so heißt der 2001 in Neumünster gegründete Selbsthilfeverein von Eltern von Kindern mit Behinderung, Menschen mit Behinderung sowie Unterstützern. Kersten Andresen ist stellvertretende Vorsitzende des auf mittlerweile 143 Mitgliedsfamilien angewachsenen Vereins, Rabea Ahrens Leiterin des vereinseigenen ambulanten Dienstes, der in den vergangenen zwei Jahren aufgebaut wurde. Aus früheren Kooperationen besteht schon länger der Kontakt zu Jürgen Büstrin, Geschäftsführer des Pflege- und Therapiezentrums Haus Reckeblick, der auch das neu entstehende, generationsübergreifende Graf Recke Quartier verantwortet. Und so entstand schnell die Idee, im neuen Quartier auch Wohn- und Lebensraum für Menschen mit Handicap zu schaffen.

Keine vollstationäre Einrichtung, so Geschäftsführer Büstrin, sondern „selbstbestimmte Haus-Wohngemeinschaften“ sind nun im Graf Recke Quartier Neumünster entstanden. Die pflegerischen Aspekte werden von der Graf Recke Stiftung sichergestellt, mögliche Hilfestellungen in der Freizeit übernimmt bei Bedarf das Team von Rabea Ahrens. Die gelernte Heilerziehungspflegerin spricht jedoch lieber von Assistenz, der Alltag für die Bewohner soll „so eigenständig wie möglich“ gestaltet werden, sagt sie. Ein solches Projekt einer ambulanten Wohngemeinschaft für schwerst-mehrfachbehinderte junge Menschen gebe es in Neumünster bislang nicht, betont Jürgen Büstrin. Höchste Zeit für alle Beteiligten, dass sich das ändert.

Und so entstanden etwa vier Einzelwohnungen, in die Anfang Mai bereits Menschen mit Behinderungen, die nicht im hohen Maße eine Alltagsassistenz benötigen, eingezogen sind. Hinzu kommen künftig drei barrierefreie Wohngemeinschaften. Bis zur geplanten, offiziellen Eröffnung des Graf Recke Quartiers im August sollen dort jeweils vier jüngere Menschen mit erhöhtem Assistenzbedarf einziehen. Einige haben bereits eine von der „Aktion Mensch“ unterstützte, so genannte „Wohnschule“ bei Rabea Ahrens durchlaufen, „um einen Vorgeschmack zu bekommen, was es bedeutet, aus dem Elternhaus auszuziehen“, wie sie sagt. „Und es ist natürlich klasse, dass das Erlernte im Quartier nun tatsächlich umgesetzt werden kann.“

Gemeinsame Planung

Auch Kersten Andresen, die den Verein mitbegründet hat, freut sich, sehr sogar. In der gemeinsamen Planungsphase mit den künftigen Bewohnern wurden deren besonderen Bedürfnisse ermittelt und architektonisch nach Möglichkeit umgesetzt. So wird etwa jedes WG-Zimmer über ein eigenes Badezimmer verfügen. „Wo gibt es das sonst?“, fragt Jürgen Büstrin. Denn natürlich müsse man die jeweiligen, durchaus unterschiedlichen Handicaps berücksichtigen. „Das Ergebnis finde ich wirklich hervorragend“, schwärmt er schon jetzt.

Kersten Andresen sieht das genauso. Sie ist Mutter einer 23-Jährigen Tochter mit mehrfacher Behinderung, die im Sommer im Rahmen des Pilotprojekts ihr Elternhaus verlassen wird. Ein großer Schritt für beide Seiten: Für die Tochter sei daher der Sozialraumbezug wichtig, meint ihre Mutter. „Und im Quartier wird es viele Begegnungen geben.“ Zudem haben sich die meisten der künftigen WG-Mitglieder bereits bei offenen Aktionen des Lichtblick e.V. kennengelernt, da seien Freundschaften entstanden. Und da jeder und jede unterschiedliche Fähigkeiten mitbringt, „werden sich im Alltag auch Synergien ergeben“, glaubt Rabea Ahrens.

Für Kersten Andresen wird sich nach dem Auszug ihrer Tochter ebenfalls einiges verändern. „Als Eltern sind wir ja bislang 365 Tage im Jahr im Dienst, 24 Stunden am Tag“, macht sie klar. Ihre Tochter könne mittlerweile gut sprechen, vieles auch alleine erledigen. „Aber es muss jemand ein Auge darauf haben. Das muss aber nicht zwingend das der Eltern sein“, meint sie. Es gehe um „Lebensqualität für alle Seiten“. Zudem ist es für sie gar keine Frage, dass sie künftig weiterhin unterstützend tätig sein wird. „Wenn meine Hilfe gebraucht wird, bin ich da“, sagt sie. Das gelte auch für die anderen Eltern. „Ob man zum Beispiel zwei Stunden beim Kochen hilft oder gemeinsam Musik macht.“ Es gebe viele Möglichkeiten, sich im Quartier und in den Wohngemeinschafen einzubringen.

Eine Frage der Zeit

Dass man nicht genügend Assistenten finden wird, letztlich wohl 35 an der Zahl, diese Gefahr besteht laut Rabea Ahrens ebenfalls nicht. „Wir haben schon jetzt viele Bewerbungen“, freut sich die Leiterin des ambulanten Dienstes. „Das beginnt bei 18 Jährigen und geht hoch bis 60.“ Sie kann sich das große Interesse an dieser Aufgabe erklären:  Es sei spannend, die Menschen auf ihrer Reise zu begleiten, sagt sie. „Und sich in gesunder Zurückhaltung zu üben.“ Denn nicht nur für Rabea Ahrens ist klar, dass Menschen mit Behinderung für manche Dinge lediglich mehr Zeit benötigen. „Diese Menschen werden oft unterschätzt“, pflichtet ihr Kersten Andresen bei. Vieles scheitere schlicht an der nötigen Barrierefreiheit – oder an der mangelnden Geduld des Umfeldes.

Das wird im Graf Recke Quartier anders sein. „Das Projekt kann gar nicht scheitern“, meint Jürgen Büstrin mit einem Lachen. Doch dem Geschäftsführer ist es durchaus ernst: Der Bedarf für eine solch selbstbestimmte Wohnform sei groß, man erhalte Anfragen von überall her, sagt er. Und daher gibt es auch bereits vor der Eröffnung eine Warteliste. Auf dieser jedoch stehen bislang vor allem Jugendliche, die schon mal an später denken.

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