»Ich bin für die Jugendlichen da, nicht umgekehrt«
Sein Ansatz in der Jugendhilfe im damaligen Reckestift war 1973 der Zeit voraus, seit 2007 ist der Pädagoge Alphons Hanssen im Ruhestand. Eigentlich. Doch der gebürtige Niederländer sprang kurz nach seinem offiziellen Abschied in einer Wohngruppe der Graf Recke Stiftung als Einzelbetreuer ein – und ist geblieben. Nun begleitet und unterstützt er ältere Jugendliche und ist beinahe täglich vor Ort. Zum äußerst seltenen 50. Dienstjubiläum denkt er nun aber tatsächlich übers Aufhören nach. Ein bisschen.
Sechs Wochen dauerte der Ruhestand von Alphons Hanssen, es könnten auch nur fünf gewesen sein, er ist sich nicht mehr sicher. Dann aber erreichte den Neu-Rentner ein Anruf aus einer Wohngruppe auf dem Campus der Graf Recke Stiftung in Düsseldorf-Wittlaer. Sie hätten große Personalprobleme, ob er nicht kommen und aushelfen könne?, wurde er gefragt. Alphons Hanssen überlegte nicht lange und brach seinen Urlaub in Frankreich ab. »Vier Tage später war ich da.« Aus dem geplanten Kurzeinsatz in einer Einzelbetreuung wurde allerdings ein Dauergastspiel. Der frühere Teamleiter ist nach wie vor ihm Dienst, 20 Stunden in der Woche, was nun zu einem ganz besonderen Jubiläum führt.
Der Urlaub in der Heimat seiner Frau, der Anruf, die Rückkehr – das alles nämlich geschah bereits vor 16 Jahren. Und da Alphons Hanssen Geschmack an seiner neuen Rolle als Betreuungskraft gefunden hatte, zurück zu seinen Wurzeln, ist er nun seit insgesamt 50 Jahren für die Stiftung im Einsatz. Eine außergewöhnliche Zahl, über die der Jubilar nicht groß nachdenkt. Ihm mache seine Arbeit einfach große Freude. »Mit Jugendlichen umzugehen, das ist für mich ein Gewinn. Ich kann mir nicht vorstellen, zu Hause zu sitzen und Monopoly zu spielen.« Er lacht.
Fast jeden Tag in der Wohngruppe
Und so ist Alphons Hanssen nach wie vor beinahe täglich in seiner jetzigen Intensivgruppe anzutreffen, in die er ein halbes Jahr nach seinem Noteinsatz gewechselt war. Er begleitet dort die älteren Bewohner, geht beispielsweise in die Schulen oder Betriebe, bespricht die jeweilige Situation. Grundsätzlich habe sich zu früher nicht viel geändert, meint er. Von den allgegenwärtigen Medien vielleicht mal abgesehen. Den Umgang damit müsse man gemeinsam angehen, glaubt er. »Das ist für mich nicht ganz einfach, weil ich kein Interesse an Computern habe«, räumt Hanssen ein. Aber: „Ich vermittle den jungen Leuten anderes.«
Das war schon so, als er 1973 aus Maastricht nach Deutschland kam. Verantwortliche der Stiftung hätten damals seine pädagogische Schule besucht und ihn »quasi hierhergeholt«, erzählt er. Das Interesse kann er auch erklären: »Wir hatten in den Niederlanden eine ganz andere Ausbildung, die galt als viel fortschrittlicher.«
Und so startete Alphons Hanssen als pädagogischer Mitarbeiter in der damaligen Gruppe 1 des Reckestift, wie die Einrichtung in Wittlaer zu dieser Zeit noch hieß. Nur zwei, drei Jahre später habe er dann die Leitung einer anderen Gruppe übernommen. »Das hat nicht allen gefallen«, merkt er an. »Ich habe mit meinem Team einiges verändert. Im Prinzip alles.« Das hatte Gründe.
Ich habe mit meinem Team einiges verändert. Im Prinzip alles
Alte Strukturen aufgebrochen
Zu dieser Zeit habe man in Deutschland noch bis 21 Jahren als Jugendlicher gegolten, erklärt Alphons Hanssen. »Und trotzdem waren die noch zum Teil zu viert in einem Zimmer, ohne Steckdose, um halb zehn ging es ins Bett.« Für den innovativen Pädagogen waren das „keine Zustände“. Auch dass für die durchweg männlichen Bewohner ausschließlich männliche Erzieher zuständig waren, hielt er für ein Unding. »Wir haben alte Strukturen aufgebrochen und wurden skeptisch beäugt«, sagt er.
Doch Hannsen blieb seiner Linie treu, holte die ersten Frauen ins Team, gewährte den jeweils zehn bis zwölf Jugendlichen Ausgang, später durften sie sogar die Freundin mit in die Gruppe bringen. Auch die Urlaubsroutinen änderte man radikal. Einmal seien sie noch, wie üblich, im Sommer in eine Jugendherberge nach Iserlohn gefahren (»Ich wusste gar nicht, wo das liegt«), im zweiten Jahr ins Allgäu. »Danach haben wir uns geschworen: nie mehr!« Ab da seien sie in den Ferien ins Ausland gereist, an die Costa Brava oder nach Barcelona, mehrmals auch für ein Wochenende nach Paris. »Die Jungen kamen zurück und hatten tolle Erlebnisse und ihren Horizont erweitert.« Er strahlt noch heute, wenn er davon berichtet.
Doch auch im Alltag lief in seiner Gruppe BelEtage, in der Alphons Hanssen bis zuletzt Teamleiter war, einiges anders. »Was ich immer wichtig gefunden habe, war Sport und Spiel, vom Tischtennis über Billard bis zum Kickern«, sagt er. Eine Weile habe er auch die Fußballmannschaft der Stiftung trainiert. Die schwächsten in der Gruppe mussten mit den Stärksten ein Team bilden, »egal ob ihnen das gepasst hat«. Sozialverhalten, Fairness, Teamgeist, das waren die Ziele dieses Trainings, ganz nebenbei. Über allem jedoch stand stets seine unumstößliche Maxime: »Ich bin für die Jugendlichen da, nicht umgekehrt.«
Hilfsbereit und immer gute Laune
Längst ist das, was der Niederländer ins Rheinland gebracht hat, Standard in der Jugendhilfe. Das sieht auch Elke Sauspeter so, die Alphons Hanssen eine »für die damalige Zeit sehr moderne Arbeitsweise« bescheinigt. Und die heutige Assistentin der Fachbereichsleiterin Gabriele Trojak-Künne muss es wissen: Die Erzieherin und Diplom-Sozialarbeiterin begann 1983 in Hanssens Team und hat elf Jahre lang direkt mit ihm zusammengearbeitet. »Er hatte eine Offenheit, die besonders war«, sagt sie. »Ich wäre nicht 40 Jahre hier, wenn ich damals nicht bei ihm eingestiegen wäre. Das hat viel mit meinen Anfängen zu tun.«
Dass Alphons Hanssen aus dem Ruhestand zurückkam, hält Elke Sauspeter für typisch, im positiven Sinn. »Weil er immer eine große Hilfsbereitschaft gezeigt hat. Wenn ein Notfall war, war er da.« Es sei kein Zufall, dass manche ehemalige Bewohner auch nach 40 Jahren noch mit ihm Kontakt hielten, sagt sie. Stets sei er mit Herz und Seele dabei, habe etwa mit eigenen Möbeln seine Gruppe aufgewertet. Was sie so allerdings noch nie erlebt habe, auch bei sich selber nicht: »Herr Hanssen hat immer gute Laune, er singt und pfeift, auch an Tagen mit hoher Arbeitsbelastung.«
Als mühsam hat der so Gelobte seinen Job tatsächlich nie empfunden. »Anstrengend? Dafür bin ich da«, meint er nur und lächelt. Im Gegenteil hat er sich immer gerne der schwierigen Fälle angenommen, mit einem großartigen Team, wie er betont, weshalb ihm der gute Draht zu den Jugendämtern wichtig war. »Die hatten uns immer als mögliche Wohngruppe auf dem Schirm.« Die größte Freude war es für ihn, wenn einer dieser Jugendlichen später »mit dem Gesellenbrief als Bäcker oder Schlosser bei uns rausgegangen ist«. Und das kam immer wieder vor. Deshalb bedauert er es auch so sehr, dass die einst zur Stiftung gehörenden Handwerksbetriebe nicht mehr existieren. »Die Meister dort kannten die Jungs und ihre Biographien, man hatte engeren Kontakt.«
Dass sein Kontakt zur Wohngruppe indes stets gegeben war, liegt auch am Wohnort von Alphons Hanssen und seiner Frau, einer Diplom-Sozialarbeiterin, die früher ebenfalls für die Graf Recke Stiftung tätig war: Ihre Wohnung lag lange Zeit im selben Gebäude wie die BelEtage, seit einigen Jahren leben sie schräg gegenüber seiner jetzigen Wohngruppe. »Das war früher Pflicht, der Teamleiter musste an der Gruppe wohnen«, erklärt er. »Das war einerseits ein Vorteil, aber man wurde halt auch gerufen, wenn was war.«
Ein Stapel ungelesener Bücher
Das hat sich nun ein wenig geändert, seit er keine leitende Position mehr bekleidet. Durch seine Arbeitsverlängerung hat der Unruheständler allerdings immer noch relativ wenig Zeit für die geliebten Reisen zusammen mit seiner Frau, und auch seine Hobbys. Sport im Fernsehen guckt er gerne, aber auch dem Enkel beim Fußballspielen zu. Zudem stehen 50 oder 60 Bücher in der Ecke, die er eigentlich längst schon lesen wollte, »und ich bestelle immer wieder neue«; über den Widerstand im Zweiten Weltkrieg etwa oder Werke des russischen Pädagogen Makarenko. »Der hat schon vor 100 Jahren interessante Sachen geschrieben.«
Ob er sich der Lektüre demnächst nicht doch einmal verstärkt hingeben wolle? Ja, meint Alphons Hanssen dann, »nach diesem Jahr höre ich auf«. Kurze Pause. »Aber das sage ich jedes Jahr.«