Gelebte Selbstbestimmung
PartiSel, Partizipation und Selbstbestimmung, heißt das Programm, das seit rund fünf Jahren im Haus Gießerstraße in Ratingen läuft – und das durch Einschränkungen während der Coronapandemie jäh ausgebremst wurde. Die Bewohnerinnen Steffi Lappe und Lara Kreuter haben dennoch zuletzt enorme Fortschritte gemacht: Eine der beiden jungen Frauen kommt nun viel häufiger ohne fremde Hilfe klar, die andere wagte gar den Auszug.
Für Steffi Lappe und Lara Kreuter hat sich in den vergangenen Jahren einiges geändert. Die eine zieht sich vor dem Zubettgehen jetzt selbstständig um, die andere zog gleich ganz aus; je nach ihren individuellen Möglichkeiten eben. Als persönlich bereichernd begreifen die beiden jungen Frauen den Veränderungsprozess im Haus Gießerstraße in Ratingen aber allemal. Es dürfte für sie sogar noch schneller, noch weiter gehen.
Steffi Lappe und Lara Kreuter fanden einst im Haus der Graf Recke Stiftung, einer Einrichtung für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung, ein Zuhause. Und seit 2016 läuft dort das Programm PartiSel, was für Partizipation und Selbstbestimmung steht. Die Bewohnerinnen und Bewohner sollen verstärkt teilhaben und eigenverantwortlich leben; sie sollen mitentscheiden, von der Essensplanung bis zur Freizeitgestaltung. Noch bevor es das Bundesteilhabegesetz (BTHG) zur Vorgabe gemacht hat, wurde dies in Ratingen gelebt. Mit großem Erfolg.
Weitere Geschichten und Informationen rund um das Thema "Selbstbestimmt!" lesen Sie in der der aktuellen recke:in 4/2021, die im Dezember erschienen ist.
Warum Christoph Schluckebier, Bereichsleiter im Sozialraum Ratingen-Ost, jetzt dennoch von »PartiSel 2.0« spricht, hat mit der Covid-19-Pandemie zu tun. »Weil wir im Prinzip noch mal von vorne anfangen müssen«, erklärt er. In vielem, was man längst erreicht hatte, sei man durch Corona zurückgeworfen worden. Beispielhaft nennt er das Thema Essen und Einkaufen, das unter anderem aus Infektionsschutzgründen »outgesourct« wurde, wie Schluckebier es nennt. »Wir hatten einen Caterer und einen Einkaufsservice. Das widerspricht jedem Teilhabegedanken.« Die Pandemie habe zweifellos die gesamte Gesellschaft getroffen, meint er. »In der Eingliederungshilfe spürten wir das aber ganz besonders.«
Zwar wurden dem BTHG folgend Anfang 2020 alle Wohnverhältnisse im Haus Gießerstraße in eigenständige Mietverhältnisse umgewandelt. Dennoch besteht in Ratingen weiterhin das Gefühl einer großen WG mit 24 Bewohnerinnen und Bewohnern. Aber auch diese seien im Laufe der Pandemie per Erlass angehalten worden, möglichst in ihren eigenen Zimmern zu bleiben, die Gemeinschaftsräume zu meiden. »Wir reden hier von Isolation und Maßnahmen, die unser Bestreben zur Teilhabe konterkarieren«, verdeutlicht der Bereichsleiter.
Und so sei das Betreuerteam im Haus fast zwangsläufig wieder in den Fürsorgemodus gerutscht, erinnert sich Christoph Schluckebier. »Wir mussten unsere Bewohner ja verantwortungsvoll versorgen.« Dabei ist doch eigentlich mehr Eigenständigkeit das erklärte Ziel. Statt anstehende Aufgaben selbst zu übernehmen, gelte es auch mal Dinge auszuhalten, die von den Bewohnern nicht sofort erledigt werden. Ein ungemachtes Bett, ein nicht abgeräumter Frühstückstisch etwa, das sei kein Problem, meint Schluckebier. »Wir müssen von Fall zu Fall abwägen, wo wir eingreifen. Ein gesundes Verantwortungsbewusstsein, wie das jeder im Team hat, muss der Maßstab sein.«
»Ich mache heute mehr als früher«
Geht es nach Steffi Lappe, könnte sich dieser Maßstab noch weiter verschieben. Die 30-Jährige, die seit vielen Jahren im Haus Gießerstraße lebt, ist seit ihrer Geburt auf den Rollstuhl angewiesen, würde sich aber trotzdem gerne noch mehr in der Hausgemeinschaft einbringen. »Ich könnte auch mit einer Hand staubsaugen, man müsste mir nur die Zeit geben. Aber meine Mitbewohner wollen das oft nicht«, sagt sie. Auch beim Kochen könnte sie beispielsweise mehr helfen, findet sie, beim Gemüseschneiden zum Beispiel. »Aber das funktioniert noch nicht so richtig.«
Doch Steffi Lappe lässt sich davon ihre grundsätzlich gute Laune nicht nehmen. Dann bleibe ihr schon mehr Zeit zum Rechnen, Lesen und Telefonieren, meint sie laut lachend. Es sind ihre drei großen Leidenschaften. Daneben konzentriert sich die junge Frau auf ihre ganz persönlichen Fortschritte. »Ich mache heute mehr als früher«, sagt sie. Beispielsweise fährt sie morgens mittlerweile allein in ihrem Rollstuhl zum Bus, der sie dann zur Arbeit bringt. Und Steffi Lappe hat ein wirklich großes Ziel: »Mein Wunsch wäre, dass ich den Rollstuhl nicht mehr brauche.« Noch ist es nicht so weit. Bei der Arbeit, wo sie verschiedene Sachen für Auftraggeber sortiert, trainiert die 30-Jährige aber ganz nebenbei das Laufen in einem Gehwagen, drei Mal in der Woche kommt Krankengymnastik hinzu. »Das macht keinen Spaß, aber da muss ich durch«, merkt sie mit ihrem ureigenen Humor an. Und in der Tat: Mittlerweile kann Steffi Lappe selbstständig vom Bett in ihren Rollstuhl steigen, »das konnte ich vorher nicht«. Für sie ist das ein Stück Freiheit: »Ich muss niemanden mehr fragen, wenn ich aufstehen will.«
Gute Vorbereitung für die Zweier-WG
Auch Lara Kreuter ist in ihren fünf Jahren im Haus der Graf Recke Stiftung deutlich selbstständiger geworden. »Am Anfang kümmerten sich die Mitarbeiter schon noch um mehr Sachen«, berichtet sie. Sie hätten zum Beispiel immer die Spülmaschinen ein- und ausgeräumt. »Später haben wir das selber gemacht«, sagt sie. Ein gemeinsam erarbeiteter Plan gibt nun vor, wer von den zehn Bewohnern auf der Etage an welchen Tagen dran ist. Auch andere Aufgaben wurden so nach und nach auf die Bewohner verteilt. Sie kenne niemanden im Haus, der das kritisch sehe, hat sie festgestellt.
Auch die 26-Jährige findet das prima. Es sei für sie eine gute Vorbereitung gewesen, meint sie – aus gutem Grund: Im Oktober ist Lara Kreuter in eine Zweier-WG schräg gegenüber eingezogen; ohne PartiSel wäre ihr dieser Schritt möglicherweise nicht so schnell gelungen. Ein bisschen Angst hat sie allenfalls davor, nachts einen epileptischen Anfall zu bekommen, wie sie gesteht. Sollte dies passieren, was in den vergangenen Jahren aber immer seltener vorkam, hat sie nun ein Armband, das im Notfall einen Pflegedienst alarmiert. Das beruhigt sie. Die Freude über das Wohnen mit nur einer Mitbewohnerin überwiegt ohnehin.
Lara Kreuter, die in einer Ratinger Werkstatt in der Verpackung tätig ist, genießt die so gewonnene Ruhe genauso wie ihre neuen Freiheiten. Sie müsse niemandem mehr Bescheid geben, wann und wohin sie gehe, und auch keine Rücksicht nehmen auf viele Mitbewohner. »Und ich kann mich immer mit meinem Freund treffen«, sagt sie mit einem Lächeln. Aufs Selberkochen hat sich die begeisterte Tänzerin ebenfalls gefreut. »Ich probiere gerne neue Sachen aus«, verrät sie. Nur ihre im Haus Gießerstraße erworbene Spülmaschinenroutine bringt ihr im neuen Zuhause leider nichts: In der Zweier-WG ist Spülen von Hand angesagt.