Ein bunter Haufen auf dem Weg
Um die Jahrtausendwende wurde das Angebot der Graf Recke Stiftung um ein Wohnangebot für Menschen mit Behinderung erweitert. Der Heilpädagogische Verbund im Rheinland hat sich seitdem enorm entwickelt – und Annette Methfessel und Frank Schwanz waren als Mitarbeitende stets daran beteiligt. Auch so mancher Bewohner hat über die Jahre große Fortschritte gemacht, andere begeben sich gerade erst auf den Weg. Das oberste Ziel: ein möglichst selbstständiges Leben.
Als sie im Mai 1999 im Haus Haarbach Höfe in Ratingen anfing, »da gab es nur den Neubau, noch keine Bewohner«, erinnert sich Annette Methfessel. Die heutige Bereichsleiterin im Sozialraum Hilden gehörte genau wie ihr Kollege Frank Schwanz vom Sozialraum Ratingen-West zu den »Mitarbeitenden der ersten Stunde«, wie er sagt. Es war ein Pilotprojekt inmitten eines Wohngebietes – und damit die Geburtsstunde des Heilpädagogischen Verbunds.
In der 200-jährigen Geschichte der Graf Recke Stiftung gehört die Heilpädagogik mit ihren Wohnangeboten für erwachsene Menschen mit geistigen oder komplexen Mehrfachbehinderungen somit zu den jüngeren Kindern, wenn man so will. Und doch ist bereits viel passiert seit den Anfängen. Aus einem Haus wurden drei (hinzu kamen ein weiteres in Ratingen und eines in Hilden), zudem wurde das Angebot um das betreute Wohnen erweitert. Dass Annette Methfessel und Frank Schwanz bis heute mit Begeisterung dabei sind, längst in verantwortlichen Positionen, hat viel mit dieser Entwicklung zu tun, an der sie federführend beteiligt waren.
Gereizt aber hatte beide am Anfang zunächst das Neue, die Aufbauarbeit. Frank Schwanz, der zuvor eine Kita geleitet hatte, begann seinen Zivildienst zunächst noch in der Sozialpsychiatrie der Stiftung in Düsseldorf. Doch nach drei Monaten wechselte er nach Ratingen, wo das neue Angebot »den inklusiven Gedanken verfolgen und eine Versorgungslücke schließen sollte«, wie er erzählt. Mehr noch, betont Annette Methfessel: »Konzeptionell durften wir jegliche Entwicklungen mitgestalten und hatten die Chance, das Haus an die Bedarfe der Menschen anzupassen.«
Von Anfang an galt laut Annette Methfessel das Normalitätsprinzip. »Es ging und geht bis heute darum, Menschen mit Behinderung zu befähigen, ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen«, sagt sie. Dasgelang schnell, mit einem multiprofessionellen Team, »ein bunter Haufen«, wie Frank Schwanz es ausdrückt. Erzieherinnen und Erzieher seien darunter gewesen, Menschen aus der Heilpädagogik und der Sozialarbeit, sogar eine Musiktherapeutin. »Wir waren ganz unterschiedliche Charaktere«, meint Annette Methfessel. »Da war die notwendige Lebendigkeit drin, um eine familiäre Atmosphäre zu schaffen.« Ein wichtiger Punkt, kommen die Bewohner doch meist direkt aus ihren Herkunftsfamilien.
Doch auch, wenn sich die hier lebenden und arbeitenden Menschen schnell in Ratingen einlebten, in der Nachbarschaft akzeptiert zu werden, das habe gedauert, erzählt Frank Schwanz. Um Berührungsängste abzubauen, seien viele Gespräche notwendig gewesen. »Und auch die eine oder andere Feier«, ergänzt Annette Methfessel mit einem Lachen.
Ab 2003 hat auch Thomas Schmidt mitgefeiert. Der heute 42-Jährige war damals bei seinen Eltern aus- und in ein Zimmer in Haarbach Höfe 1 eingezogen. »Das war für mich der richtige Weg«, sagt er rückblickend mit Überzeugung. Das kommt wenig überraschend, führte ihn dieser doch immer weiter in die Selbstständigkeit. Nach gut drei Jahren bereits zog Thomas Schmidt in die mittlerweile als Verselbstständigungsgruppe im Haus Gießerstraße eingerichtete Dreier-WG im Verbund. »Das war sehr gut«, meint er. Doch es gab auch eine kleine Einschränkung: »Ich war der Einzige, der geputzt hat«, erinnert er sich.
Inzwischen ist das kein Thema mehr: Im Rahmen des betreuten Wohnens lebt Thomas Schmidt seit rund zehn Jahren in seiner eigenen Wohnung. »Ich bin mein eigener Herr«, berichtet er mit einem Strahlen. Schon lange Zeit arbeitet er in einer Werkstätte für Menschen mit Behinderung, montiert dort für Puky Kinder-Laufräder, was ihm viel Spaß macht. Auch einen Freundeskreis außerhalb der Stiftung hat er sich längst aufgebaut, zudem betreut er gewissenhaft die Katze einer Arbeitskollegin, wenn diese im Urlaub ist. »Das ist bisher immer gutgegangen«, sagt er und lacht.
Thomas Schmidt fühlt sich in seiner Eigenständigkeit gut durch die Graf Recke Stiftung betreut: »Durch Frau Methfessel habe ich gelernt, mit Geld umzugehen und auch gesünder zu essen«, erzählt er. Und es geht weiter, ein nächstes Ziel hat er sich bereits gesteckt: Er, der in seiner Freizeit gerne Fahrrad fährt und Fußball spielt, wünscht sich eine Wohnung mit Balkon. »Das krieg ich hin«, davon ist er überzeugt.
Während Thomas Schmidt also bereits weit gekommen ist, steht Antonia Wimmers noch ziemlich am Anfang. Sie ist ja auch erst 23 Jahre alt. Im Februar aber hat sie einen großen Schritt gewagt: Sie ist bei ihrer Mutter ausgezogen, lebt nun zum ersten Mal in einer eigenen Wohnung. Keine Selbstverständlichkeit für sie: »Ich habe einen Gendefekt. Ich habe dadurch einen Sprachfehler und auch eine Lernschwäche«, berichtet sie – und freut sich deshalb, dass sie ihren Weg nicht alleine bestreiten muss: Marina Badorrek, ebenfalls ganz neu im Team der Heilpädagogik, unterstützt sie als Assistentin soziale Teilhabe im betreuten Wohnen.
Gemeinsam mit ihrer Schwester, die ihr seit jeher zur Seite stand, hatte sich Antonia Wimmers zunächst eine eigene Wohnung gesucht. »Das hat geklappt«, wie sie mit einem Lächeln erzählt, befindet sich die Wohnung doch in einem Haus ihres Vaters. Noch vor dem Einzug hatten sich die drei Frauen dann zusammengesetzt und eine Art Rahmen für ihr künftiges Leben entworfen. »Das Ziel ist es, Antonia in ihrem Willen und nach ihren Fähigkeiten zu unterstützen«, erläutert Marina Badorrek. Die 30-Jährige hält sich in der Regel daher bewusst zurück. »Am besten ist es, wenn Antonia ihre Ressourcen weiter ausbauen kann.«
Das Einkaufen klappe sehr, sehr gut, sagt Antonia Wimmers. Bei der Verwaltung der Post brauche sie manchmal Unterstützung. »Und Aufräumen ist noch eine Schwäche«, gesteht sie. In vielen anderen Bereichen komme sie dagegen gut klar. Etwa bei ihrer Arbeit im Büro einer Werkstatt für angepasste Arbeit. Und doch träumt die 23-Jährige insgeheim von einer Veränderung: »Mediengestaltung macht mir viel Spaß.« Bislang allerdings bringt sie diese Leidenschaft ausschließlich in ihrer Freizeit ein, bei einem Verein, der sich für die Akzeptanz und Anerkennung ihrer Krankheit einsetzt. »Das ist Teil eines Medienprojekts«, erklärt sie. Dass Podcasts, Videos und Instagram sie künftig auch beruflich beschäftigen könnten, dafür will sie kämpfen. Die Chancen stehen nicht schlecht, hat Antonia Wimmers doch zuvor schon Außergewöhnliches geleistet. »Sie hat sich persönlich bei uns um einen Platz bemüht«, erinnert sich Annette Methfessel. Die junge Frau habe sich in einem Brief vorgestellt und auch benannt, wobei sie Hilfe benötigt. »Die Bemühung, die in dieser Anfrage lag, war bemerkenswert «, meint die Bereichsleiterin. Dass Antonia Wimmers, die ganz nebenbei auch noch an einem Buch schreibt, beruflich ihren Weg gehen wird, davon ist auch Marina Badorrek überzeugt.
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Als Assistentin wird sie dabei jedoch allenfalls den einen oder anderen Tipp geben. »Mit einer gesunden Bauchpädagogik «, wie es Annette Methfessel nennt, ist die neue Mitarbeiterin doch ebenfalls eine Quereinsteigerin, so wie sie damals. »Ich bin gelernte Hotelfachfrau«, sagt Marina Badorrek. »Aber ich habe mich gefragt, ob das noch sinnhaft ist für mich.« Die 30-Jährige kam zu dem Schluss: Nein, und das hatte nicht nur mit Corona zu tun. »Anderen konkret zu helfen, das hat mir in meinem früheren Beruf gefehlt«, hat sie festgestellt. Das hat sich nun geändert.
Und so fügt sich die neue Kollegin ein in den weiterhin bunten Haufen, dessen Qualität mit den Jahren »auf neue Beine gestellt« worden ist, wie Annette Methfessel und Frank Schwanz übereinstimmend feststellen. Die Anforderungen durch das Bundesteilhabegesetz, das die individuellen Fähigkeiten der Klientinnen und Klienten in den Mittelpunkt rücken soll, seien zweifellos gestiegen, sagt Frank Schwanz. Die administrativen Tätigkeiten allerdings auch. Durch die Einführung des Teilhabemanagements in der Stiftung werde das aber zum Glück abgefedert: Mehrere Case-Managerinnen- und -manager kümmern sich nun federführend »um die Initiierung, die Steuerung, das Controlling und die Evaluation des Teilhabeplanverfahrens für die Klienten«, wie es in der offiziellen Jobbeschreibung heißt.
Noch immer eine große Aufgabe
Annette Methfessel war zwischenzeitlich ebenfalls als Case- Managerin tätig, war dann aber als Bereichsleiterin gerne wieder nach Hilden an die Basis zurückgekehrt. Sie nennt es »eine tolle Sache, an diesem Change-Prozess beteiligt zu sein, als Stiftung, aber auch ganz persönlich«. Das alles mitzugestalten und zu vertreten, treibe sie an. Und es gibt ja weiterhin noch viel zu tun.
Man habe als Graf Recke Stiftung zweifellos eine enorme Entwicklung erlebt, meint Frank Schwanz rückblickend. Doch es bleibe eine große Aufgabe, »das auch in die Gesellschaft zu bringen«. Vieles sei noch nicht barrierefrei, nennt der Bereichsleiter ein Beispiel. Und so sei man in der Gesamtheit »noch lange nicht an dem Punkt, Menschen mit Behinderung als selbstverständlichen Teil der Gesellschaft zu betrachten«. Doch er gibt sich auch in diesem Punkt grundsätzlich optimistisch: »Wir werden nicht müde und kämpfen weiterhin gemeinsam für eine höhere Akzeptanz.«