Durchgeboxt: Joel hat es allen gezeigt

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Joel besucht seit diesem Schuljahr das Wirtschaftsgymnasium des Walter-Eucken-Berufskollegs in Düsseldorf. Keine Selbstverständlichkeit für einen 18-Jährigen, der jahrelang in Intensivwohngruppen der Graf Recke Stiftung in Hilden gelebt hat. Nicht viele finden von dort den Weg aufs Gymnasium. Doch Joel ist ebenso begabt wie ehrgeizig, hat sich selbst in den ungeliebten Sprachen deutlich verbessert. Auch seinen eigenen Haushalt schmeißt er inzwischen mit Leichtigkeit. Das anstrengendere Lernfeld des bekennenden Einzelkämpfers liegt woanders.

Im August 2020 hat für Joel ein neuer Lebensabschnitt begonnen: Neben Mathe, Englisch oder Geschichte büffelt er nun auch Betriebswirtschaftslehre und Wirtschaftsinformatik. Für den 18-Jährigen war der Weg von der Realschule aufs Wirtschaftsgymnasium ein großer Schritt, „aber genau der richtige“, wie er sagt. „Es läuft gut.“ Dass er das sagen kann, ist keine Selbstverständlichkeit. Denn die Startvoraussetzungen waren für Joel nicht eben ideal: Acht Jahren lang lebte er in Wohngruppen der Graf Recke Stiftung in Hilden, ein Angebot für Kinder und Jugendliche mit hohem Betreuungsbedarf.

Weil es in seiner Familie damals massive Schwierigkeiten gab, verbrachte Joel zwei Jahre in einer Behandlungsgruppe auf dem Campus. Danach wechselte er in die Gruppe DIKO, „eine Anschlussmaßnahme, wenn es für die Kinder keine Perspektive nach Hause gibt“, erläutert Teamleiter Jörg Krücken. Sieben Mädchen und Jungen zwischen 10 und 17 Jahren leben hier, betreut von einem fünfköpfigen Team. „Wir haben Schülerinnen und Schüler aller Schulformen, den Weg aufs Gymnasium finden aber nur wenige“, sagt Jörg Krücken.

Seit seiner Volljährigkeit ist Joel in einem der DIKO-Gruppe angeschlossenen Einzel-Apartment untergebracht. Neben der Schule muss er sich nun also auch noch um den eigenen Haushalt kümmern. Das klappe ganz gut, es sei immer was im Kühlschrank, meint er mit einem Grinsen. „Neben der Schule ist gleich ein Netto.“ Bei der Bank etwa oder auch beim Abschluss eines Internetvertrags holt er sich aber doch noch Unterstützung von den Betreuern. So sei das Apartment auch gedacht, sagt Jörg Krücken. „Damit es im Anschluss keinen ganz so harten Schnitt gibt.“

Allzu viel verändert hat sich für Joel durch den Umzug nach nebenan ohnehin nicht. Beim Lernen für die Schule war er schon immer Einzelkämpfer. „Ich wollte das alleine schaffen, von Anfang an“, sagt Joel – und kann das auch erklären: Alle in seinem Umfeld, von seiner Mutter abgesehen, hätten damals gesagt: „Aus dir wird eh nichts!“, erinnert er sich. „Und denen wollte ich zeigen, dass ich das kann.“ Schon in der fünften Klasse an der Realschule Benrath habe er sich das Abitur als Ziel gesetzt – und dafür in der Folge die Grundlage gelegt. „Es gab eine definitive Empfehlung fürs Gymnasium“, sagt Teamleiter Krücken voll Anerkennung. Überrascht hat es ihn nicht: „Sich durchboxen war immer sein Thema.“

Ort der Sicherheit und Ruhe

Joel sieht das genauso. Am Anfang, als er noch Zuhause wohnte, wollte er durchs Lernen „den ganzen Stress loswerden“, wie er sagt. „Schule war für mich ein Ort der Sicherheit und Ruhe, den ich Zuhause nicht hatte.“ Mathe und Naturwissenschaften fielen ihm leicht, Sprachen waren eine Herausforderung. Doch selbst in diesem Bereich hat sich viel getan, seit er im Sommer ans Wirtschaftsgymnasium am Walter-Eucken-Berufskolleg Düsseldorf gewechselt ist. „Ich habe jetzt eine super Deutschlehrerin und stehe auf einer Eins“, verrät Joel. In Englisch hat er sich über die Jahre von Fünf auf Zwei vorgearbeitet – vor allem durch YouTube und Filme im Original gucken, wie er mit einem Lachen bekennt. „Verstehen tue ich fast alles, Schreiben und Sprechen ist das Problem.“

Das berührt zugleich ein Thema, welches Betreuer Jörg Krücken als Joels „Lernfeld“ bezeichnet: Das Soziale sei seine wirkliche Baustelle. „Kontakt mit anderen ist für mich eher schwierig“, räumt der Schüler selbst ein. „Da gibt es irgendetwas, was mich zurückhält: Du solltest nicht allen vertrauen.“ Und so kann sich Joel nicht so recht entscheiden, ob er es nun gut oder schlecht findet, dass er wegen Corona lange Zeit gar nicht zur Schule gehen konnte und mittlerweile an lediglich zwei bis drei Tagen in der Woche. Er gehe nicht gerne raus. „Aber langsam fehlen selbst mir die sozialen Kontakte“, bekennt er ein wenig selbstironisch.

Doch Joel hat sich fest vorgenommen, nicht nur an seinem Ziel des Informatikstudiums zu arbeiten, sondern sich auch „auf die Suche zu machen, was mich neben Videospielen noch begeistern könnte“. Sein Longboard könnte er mal herrichten, mehr fällt ihm gerade nicht ein. Für Jörg Krücken ist das auch kein Wunder: Die Situation für Jugendliche sei selbst jetzt im Mai noch „ein Riesenfail“, wie er es nennt. „Alles, was man gemeinsam machen könnte, hat seit Monaten zu. Für Joels Entwicklung ist das schrecklich.“ Notgedrungen konzentriert sich der 18-Jährige zunächst auf das, was ihm ohnehin leichter fällt: den Schulerfolg. Er will damit auch anderen Mut machen, die eigenen Ziele zu verfolgen. Und so klemmt Joel sich hinter seine Bücher und macht „alle Aufgaben immer sofort, danach habe ich frei“.

Alles, was man gemeinsam machen könnte, hat seit Monaten zu. Für Joels Entwicklung ist das schrecklich.

Jörg Krücken

Beste Entscheidung

Diese Herangehensweise ist ein Teil dessen, was Joel aus der DIKO-Gruppe mitgenommen hat, wo es laut Jörg Krücken zwar gewisse Eckregeln gibt, die Jugendlichen auf dem Weg der Verselbstständigung aber auch Freiheiten genießen, „um sich auszuprobieren“. Joel wusste das, er hatte über DIKO nur Gutes gehört, weshalb er als damals Zwölfjähriger unbedingt hierher wollte. Das hat geklappt. Er nennt es „die bisher beste Entscheidung in meinem Leben“. Der Wechsel aufs Gymnasium aber kommt gleich danach.

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