Die unterstützende Hand

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Ipek und Felix befinden sich auf dem Weg zum Fachabitur an einem Düsseldorfer Berufskolleg. Das ist für die beiden 19-Jährigen keine Selbstverständlichkeit, sind sie doch körperlich und sprachlich stark eingeschränkt. Silke Offschinksi-Lansen aber erkannte das Potenzial der jungen Leute und unterstützt sie als Inklusionsbegleiterin der Graf Recke Stiftung mittlerweile im gemeinsamen Klassenraum. Es ist eine Erfolgsgeschichte gegen alle Widerstände.

Hätten die Eltern von Ipek und Felix auf die Ratschläge und Forderungen diverser Schulen, Ämter und Behörden gehört, wäre Ipek wohl auf einem Internat für Schüler mit Einschränkungen und Felix möglicherweise in einer Werkstätte für Menschen mit Behinderung tätig. Stattdessen befinden sich die beiden 19-Jährigen derzeit am Düsseldorfer Elly-Heuss-Knapp-Berufskolleg auf dem Weg zum Fachabitur. Das haben sie vor allem ihren Fähigkeiten und ihrem Fleiß zu verdanken, aber auch der Überzeugung und der Zähigkeit ihrer Eltern – und Silke Offschinksi-Lansen. Die 59-Jährige ist zertifizierte Inklusionsbegleiterin beim Familien unterstützenden Dienst (FuD) Nord der Graf Recke Stiftung. Ohne ihre Unterstützung würde Felix jetzt sicher nicht die 11. Klasse eines Berufskollegs besuchen, glaubt dessen Mutter. „Das hätten wir alleine nicht geschafft. Es war von Anfang an ein Kampf.“

Überragende Noten

Eigentlich sollte Felix nämlich in eine Grundschule für Kinder mit Behinderung eingeschult werden. Der Grund: Felix erlitt bei der Geburt eine Hirnblutung, die Folgen hatte. „Ich bin motorisch eingeschränkt durch eine Spastik an der rechten Hand“, erklärt der 19-Jährige. Um diesen Satz zu formulieren braucht er länger als die meisten anderen, denn Felix stottert. Deshalb benötigt Felix von seiner Inklusionsbegleiterin im Unterricht vor allem Unterstützung beim Schreiben und Sprechen.

Das gilt auch für Ipek, bis zu ihrem zwölften Lebensjahr ein scheinbar gesundes, quirliges Kind. Doch dann traten laut ihrer Mutter Bilnur Ergül Symptome einer neurologischen Krankheit  namens NBIA Pank2 auf. Gehen kann die junge Frau mittlerweile nur noch gestützt und kurze Strecken, weshalb sie auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Die 19-Jährige redet extrem leise, kann auch nicht mit der Hand schreiben. Dafür tippt sie im Unterricht auf ihrem Laptop, Schulsport kommt nicht in Frage. „Alles andere fällt mir leicht“, sagt Ipek und lächelt, wie sie es so oft tut. Doch dafür hat sie auch allen Grund. Denn Ipeks Noten waren stets überragend. „Das Arbeitsamt wollte Ipek trotzdem aufs Internat schicken, aber sie wollte nicht“, sagt Bilnur Ergül. Auch Silke Offschinksi-Lansen erkannte das enorme Potenzial der Schülerin und war als Inklusionsbegleiterin der Graf Recke Stiftung an Ipeks Seite. 1,2 stand letztlich als Abschlussnote in Ipeks Realschulzeugnis mit Qualifikation.

Silke Offschinksi-Lansen hatte zuvor bereits Felix an der Elly-Heuss-Knapp-Schule bis zum selben Schulabschluss begleitet. „Er war ein bisschen der Türöffner“, sagt sie. Im Folgejahr hatte Ipek dann sogar dieselbe, aufgeschlossene Klassenlehrerin, während Felix ein Freiwilliges Soziales Jahr an einer Düsseldorfer Grundschule einschob. Er sei morgens im Unterricht dabei gewesen und habe nachmittags in der Offenen Ganztagsschlule (OGS) Kinder betreut und mit ihnen gespielt, erzählt er. Nicht alle an der Schule hatten ihm das zugetraut, doch es gab zum Glück auch Fürsprecher, wie Silke Offschinksi-Lansen berichtet. „Bei Kindern stottert Felix auch viel weniger, er gewinnt sie schon alleine durch seine Empathie.“

Seit dem Sommer drückt Felix aber wieder selbst die Schulbank, fast Seite an Seite mit Ipek – zwischen ihnen sitzt lediglich Silke Offschinksi-Lansen. So agiert sie nun für beide im Hintergrund, hört zu, schreibt auf. „Wenn ich Felix gerade in Mathe helfe, muss Ipek einfach ein wenig warten. Das gilt natürlich auch andersrum.“

Beide befinden sich also auf einem guten Weg, ihre Ziele zu verwirklichen. Ipek könnte sich einen Beruf in der Verwaltung oder im IT-Bereich vorstellen. Kalkulieren und Organisieren falle ihr leicht, verrät sie. Wenn die 19-Jährige in ihrer Freizeit nicht gerade mit ihren Schwestern oder ihrer Cousine unterwegs ist, zuweilen auf dem auf sie zugeschnittenen Dreirad, schaut sie gerne Filme und Serien auf Netflix. Freundschaften seien dagegen eher schwierig, bedauert ihre Mutter. „Sich mit Ipek zu unterhalten, fällt den meisten jungen Leuten schwer.“

Felix spielt seit gut fünf Jahren Bowling, professionell im Verein, er fühlt sich dort akzeptiert, erzählt er. Seit Kurzem macht er sogar den Führerschein, in einem behindertengerecht ausgestatteten Fahrschulauto. „Er probiert einfach alles aus“, sagt seine Mutter nicht ohne Stolz. „Wenn Felix Sicherheit verspürt, kann er viel leisten.“ Und so hat der 19-Jährige auch sein Berufsziel klar vor Augen: Er möchte später als Erzieher arbeiten, am besten mit kleineren Kindern.

Mitte der Gesellschaft

Silke Offschinksi-Lansen ist guter Dinge, dass sowohl Ipek als auch Felix ihren Weg gehen werden. „Wir müssen dazu kommen, Menschen mit Förderbedarf in die Mitte der Gesellschaft zu rücken“, sagt sie. Wenn sie dazu ihren Beitrag leisten könne, sei das für sie „der Antrieb“.

Bei ihr persönlich stand der Mensch schon immer im Mittelpunkt, nicht nur beruflich. Die 59-Jährige, die einst Zahntechnikerin gelernt und später in einer Bank gearbeitet hat, zog insgesamt acht Pflegekinder groß, dazu ihren längst erwachsenen, eigenen Sohn. Über eine Nachmittagsbetreuung an einer Realschule als Kunstübungsleiterin war sie vor knapp zehn Jahren mit dem Berufsfeld der Inklusionsbegleitung in Berührung gekommen – und hatte ihr Feld gefunden. „Ich habe meinen Bankjob gekündigt und mittlerweile für die Graf Recke Stiftung fünf Kinder mit Unterstützungsbedarf begleitet.“

Felix' Mutter sieht die Inklusionsbegleitung als „unterstützende Hand“. Dazu sei sie eine hervorragende Mittlerin zwischen Kindern, Lehrkräften und Ämtern. Sohn Felix, der mit Unterstützung von Silke Offschinksi-Lansen kürzlich das erste Referat seines Lebens hielt, kann sich dem nur anschließen: „Ohne meine Eltern und ohne Silke würde ich heute nicht da stehen, wo ich stehe“, sagt er, fast ohne zu Stocken.  Bilnur Ergül nickt zustimmend. Und Ipek lächelt.

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