Die beste Entscheidung
Wie sehr ein Kind das eigene Leben verändert, wissen alle Eltern. Was aber, wenn diese selbst noch minderjährig sind? Oder wenn der Nachwuchs ungeplant das Leben derart durcheinanderwirbelt, dass alles zusammenzubrechen droht? Kim weiß, wie das ist. Und sie weiß auch, wo es für solche Situationen Hilfe gibt, denn sie ist selbst Teenagerin – und Mama.
„Hätte ich gesagt, ich will sie nicht, dann wäre alles den Bach runtergegangen“, sagt Kim. Und deshalb hat sich die damals 16-Jährige für Lia-Marie entschieden. Kims Tochter ist heute zwei Jahre alt und lebt mit ihrer Mutter im „Betreuungsnetzwerk Mutter/Vater-Kind“ der Graf Recke Stiftung in Hilden. Und Kim erwartet ihr zweites Kind.
Kim war 15, als sie ihre Schwangerschaft bemerkte. Vater des Kindes ist ihr damaliger Freund, ebenso alt – oder jung – wie sie. „Das kam ziemlich unerwartet und war nicht geplant“, beschreibt Kim im Rückblick nüchtern. Doch damals war das anders, sie erinnert sich genau an das zunächst absolut vorherrschende Gefühl: „Ich habe Angst gehabt.“
Die Wende kam beim Ultraschall. „Als ich Lia auf dem Bildschirm gesehen habe, da kam mir nichts Anderes mehr in den Sinn als: Ich will das!“ Bestärkt wurde sie darin von ihrer Mutter, selbst alleinerziehend mit drei weiteren Töchtern, eine davon erst vier Jahre alt. „Meine Mutter hat die Nachricht gut aufgenommen und gesagt, sie versucht, mich so gut wie möglich zu unterstützen“, erzählt Kim.
Und der „Kindsvater“, wie Kim Lia-Maries Vater nennt? Die Schwangerschaft war der Anfang vom Ende der jungen Beziehung. „Nachdem Lia auf der Welt war, wollten wir es nochmal gemeinsam versuchen", erzählt die heute 18-Jährige. Es seien aber „relativ viele doofe Sachen passiert, und da habe ich gesagt: Bis hierhin und nicht weiter."
Kim entschied sich für den Weg als alleinerziehende Mutter. „Die beste Entscheidung“, sagt sie heute. Ganz alleinerziehend war sie aber nicht; Kim lebte zunächst weiter bei ihrer Mutter in Hochdahl.
In ihrem Umfeld begegnete Kim sowohl Unverständnis als auch Solidarität. „Manche haben komisch reagiert, andere haben versucht, so gut wie möglich zu unterstützen.“ Es sei gut gewesen, zu sehen, dass Freunde trotz der Veränderung zu ihr gestanden hätten. Trotzdem sei natürlich manche Freundschaft auch auseinandergegangen, sagt Kim. „Die meisten haben ja anderes zu tun in diesem Alter.“ Ihr selbst war völlig klar gewesen, dass ihr diese Art von Jugend verwehrt bleiben würde. „Aber ich habe diese Entscheidung getroffen, um ein kleines menschliches Leben aufwachsen zu sehen.“
Noch mehr Chaos
So schien alles seinen guten Gang zu gehen. Doch das Zusammenleben einer Mutter mit ihren drei Töchtern und einer Enkelin – die älteste der vier Schwestern war bereits ausgezogen – konnte nichts anderes sein als eine tägliche Herausforderung. Bei aller Freude über Lia-Marie war ihre Geburt „natürlich eine sehr große Umstellung“, sagt die junge Mutter. „Das Mama-sein ist sehr anstrengend und mir fehlte die Lust, auch noch Ordnung zu halten“, bekennt sie und beschreibt es auf ihre nüchterne Art: „Es sah schlimmer aus, als es sein sollte“, was bei 16-jährigen Jugendlichen nichts Ungewöhnliches ist. Aber an eine Mutter werden eben andere Ansprüche gestellt als einen Teenager, der selbst noch bei zu Hause wohnt und für den Verantwortung meist allenfalls eine von Zeit zu Zeit zu erfüllende Erwartung der Eltern ist. „Ich habe versucht, da eine Struktur reinzubekommen, aber das hat zu noch mehr Chaos geführt“, erinnert sie sich.
Das Betreuungsnetzwerk Mutter/Vater-Kind ging 2016 aus der Mutter-Kind-Gruppe im Dorotheenviertel Hilden hervor. Mit dem Umzug an die Gerresheimer Straße wurde das Konzept verändert und die Gruppe öffnete sich auch für Väter. Im Interview erklärt Teamleiterin Andrea Prinz das Konzept, wie junge Eltern in die Gruppe kommen, wie ihnen geholfen wird und was passiert, wenn sie mit ihrer Elternschaft trotzdem nicht zurechtkommen.
Andrea Prinz kennt viele solcher Geschichten. Als Teamleiterin des Betreuungsnetzwerks Mutter/Vater-Kind in Hilden und erfahrene Pädagogin hat sie unzählige junge Menschen und Familien begleitet, in denen es irgendwann nicht mehr ohne Hilfe funktionierte. „Kims Mutter wurde schon seit Längerem durch die Familienhilfe unterstützt, und auch das Jugendamt hatte schon des Öfteren Kontakt zur Familie“, erzählt die 48-Jährige. „Und in der neuen Situation kam es irgendwann zum Konflikt.“
Die Intervention durch das Jugendamt war für Kim rückblickend die Rettung ihrer kleinen Familie: Sie habe die Unterstützung bekommen, die sie brauchte, um ihren Weg als Mutter mit Lia-Marie weitergehen zu können. Die Idee, in eine Gruppe für Mütter und Kinder zu ziehen, habe sie keineswegs begeistert, dann habe sie sich aber gesagt: „Angucken kann ich mir das ja mal.“
"Mama, ich gehe jetzt mal"
Lia-Marie war ein Jahr alt, als ihre Mutter mit ihr ins Betreuungsnetzwerk einzog. „Das war anfangs ein komisches Gefühl, zu sagen: ‚Mama, ich gehe jetzt mal‘", erzählt Kim. Sie habe sich gefragt: „Ist es richtig, sie alleine zu lassen? Das war ein Zwiespalt. Meine Mutter hat es sich nicht anmerken lassen, aber es ist ihr schwergefallen, ihr Kind und ihr Enkelkind gehen zu lassen“, beschreibt Kim die Situation von damals.
Ihre Mutter sei selbst schon mit 18 Jahren Mutter geworden, erzählt Kim. „Sie wollte das alleine schaffen. Meine Mutter und meine Oma hatten nicht immer das beste Verhältnis. Daher war meine Mutter war auf sich allein gestellt, denn auch mein Vater war irgendwann weg.“ Sie könne sich nicht an ihn erinnern, sagt Kim. Ihre Mutter habe in dieser schwierigen Situation immer ihre Kinder im Blick gehabt. „Wir Kinder standen im Vordergrund.“
Selbst ohne den leiblichen Vater aufgewachsen, ist es für Kim völlig klar, dass sie ihrer Tochter den Kontakt zu ihrem Vater ermöglichen will, auch wenn Kims Verhältnis zu ihrem Ex-Freund nicht immer konfliktfrei sei, weiß Andrea Prinz. Die Kontakte zum Vater würden durchs Team begleitet, erklärt die Teamleiterin. „Es ist ja schwierig für Kim, ihr Kind loszulassen und in die Betreuung eines anderen zu geben.“ Lia-Maries Vater komme jede Woche für eine halbe Stunde, „zum Spielen und Kuscheln“, wie Kim es beschreibt. Andrea Prinz findet Kims Verhalten sehr reif: „Sie möchte Lia ermöglichen, ihren Vater zu haben, auch wenn etwas nicht gut läuft.“ Keine Selbstverständlichkeit, häufig nicht einmal bei deutlich älteren Paaren, die sich trennen. Die zierliche Kim mit dem kindlichen Lachen aber habe von Anfang an aus eigener Überzeugung betont, dass es ihr Wunsch sei, dass der Vater ihrer Tochter jederzeit und regelmäßig seine Tochter sehen solle.
Kim und Lia-Marie leben jetzt fast ein Jahr in der Gruppe. „Mein Kind findet das auch ganz toll“, ist die Mama sicher. Andrea Prinz hat beobachtet, dass die junge Mutter ihren Tagesablauf sehr eigenständig plane, wie sie es aus ihrem bisherigen Leben gewohnt gewesen sei, aber weiterhin Anleitung bei der Ordnung und der Tagesstruktur benötige. Und wenn sie dann wieder sehr eigene Pläne mache, sei auch immer mal wieder ein Hinweis nötig, sagt die Teamleiterin. „Die Umstellung auf die Regeln der Gruppe war am Anfang nicht einfach. Kim war es gewohnt, ein eigenständiges Leben zu führen. Da brauchte es einige Gespräche, um eine Zusammenarbeit zu entwickeln.“ Inzwischen aber, sagt Prinz, habe Kim „einen anderen Fokus entwickelt".
Sehr hilfreich seien dabei die angeleiteten Kinderbereichszeiten und eine für alle Eltern in der Gruppe angebotene Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie. „Jede Woche kommt die Therapeutin zu jeder Mutter für eine Stunde, um ganz persönliche Dinge zu besprechen“, erläutert Prinz. „Bevor die therapeutische Begleitung in der Gruppe verankert war, zeigten sich viele Mütter deutlich ablehnend gegenüber einer Therapie. Das ist inzwischen ganz anders. Viele wollen das nun sogar über die Gruppe hinaus haben!“
Anfangs völlig überfordert
Die Gruppe arbeitet außerdem nach Marte Meo, einer Methode der Erziehungsberatung, bei der Videoaufzeichnungen zur Verhaltensbeobachtung und zum Lernen genutzt werden. Gemeinsam mit dem Team arbeiten die Mütter in der Gruppe an der Bindung und Beziehung zu ihren Kindern. Die Mitarbeitenden sind alle darin geschult. „Ich habe mir das für unser Team auf die Fahnen geschrieben, und wir wollen auch die Zertifizierung erreichen", erklärt Andrea Prinz.
Auch von der Hauswirtschaftskraft Yvonne profitieren Kim und die anderen Mütter. „Jede Mutter hat einen Hauswirtschaftstag, sie kann dann auch eigene Rezepte mitbringen, die sie gerne kochen will“, berichtet die Teamleiterin.
Auch Kim findet, sie habe schon viel gelernt. „Ich war mit dem Kochen anfangs völlig überfordert und habe sehr oft nachgefragt.“ Manchmal so einfache Dinge, dass andere nur auf die Zubereitungshinweise auf der Packung verwiesen hätten: „Das steht doch hinten drauf.“ Doch darüber geht es am Hauswirtschaftstag natürlich hinaus. Und auch die Kinder lernen in der Gruppe, findet Kim: „Die gucken sich voneinander viel beim Spielen ab“.
An dieser Stelle könnte die Geschichte enden. Es läuft gut für Kim. Seit dem Sommer hat sie ihren Hauptschulabschluss in der Tasche. Sie macht Fortschritte als Mutter. „Es ist toll, dass sie inzwischen selbst erkennt, was sie braucht“, sagt Andrea Prinz, „dass sie Hilfe annehmen kann, auch wenn sie mal genervt ist, und merkt, dass es mit Kindern ein herausfordernder Job ist und Unterstützung nötig ist, um das gut zu machen.“
Aber noch herausfordernder als ein Kind sind zwei.
Zum Zeitpunkt des Interviews ist Kim wieder schwanger. „Das kam auch ungeplant“, sagt Kim. Über die Frage, warum das ein zweites Mal passiert sei, muss sie ein bisschen kichern. Das wisse sie auch nicht. Was ihr aber viel wichtiger ist: „Als es passiert war, haben wir uns beide zusammen dafür entschieden.“ Wir, das sind Kim und ihr neuer Freund, den sie in der Schule kennengelernt hat und der auch jetzt an ihrer Seite bleiben will.
Natürlich war viel Skepsis im Umfeld der jungen Eltern da. Kim selbst vor allem hatte die Sorge: Was sagt die Einrichtung dazu? Andrea Prinz und ihr Team aber stehen zu ihr: „Wir machen auch das möglich.“ Natürlich würde das Team über Verhütung aufklären, aber letztlich tragen die in der Gruppe lebenden Menschen die Verantwortung für ihr Tun. „Für uns kommt es darauf an, wie wir sie auf den von ihnen gewählten Wegen fördern und unterstützen können.“
Und auch der Vater des Kindes signalisiere das. Gemeinsame Zeit sei in der Gruppe manchmal schwierig, sagt Kim, aber in der Besuchszeit sei er oft da und beschäftige sich auch gern mit Lia-Marie. „Er hat gesagt, er werde mit auf Lia aufpassen, wenn Kim im Krankenhaus ist“, berichtet Andrea Prinz. Am Wochenende kann er den ganzen Tag da sein und auch bei Kim übernachten.
Lia-Marie scheint das gut zu finden. Nachdem Kims Freund sie das dritte Mal mit von der Tagesbetreuung abgeholt hatte, erzählt Kim, habe ihre Tochter Papa zu ihm gesagt. „Obwohl wir das nie so gesagt haben“. Zum Konflikt mit Lia-Maries Vater habe das bisher nicht geführt, doch auch hier hat Kim das Vater-Tochter-Verhältnis im Blick. Ihrem Exfreund habe sie gesagt: „Selbst, wenn sie Papa zu meinen Freund sagt, wirst Du immer der Papa sein.“
Kim kennt die Schwierigkeiten solcher Konstellationen aus eigener Erfahrung. „Wenn meine Mutter andere Männer kennengelernt hat, war das für uns ja auch die Frage.“ Mit einem sei sie sogar einmal „auf einem Vater-Tochter-Level“ gewesen, erzählt sie. Da sei dann ihre große Schwester sehr eifersüchtig geworden. Ihrer Tochter versuche sie, die Konstellation spielerisch zu erklären. Irgendwann werde sie dann das Alter haben, meint Kim, um auch selber entscheiden zu können.
Mia ist da
Inzwischen ist Kims zweite Tochter geboren. Teamleiterin Andrea Prinz meldet aus Hilden: "Kim und Mia sind wohlauf!"
Irgendwann. Was wird dann sein? Wenn sie jemand frage, was sie sich vorstelle, wie es in 10 oder 15 Jahren sein werde oder solle, dann habe sie kein Bild vor Augen, sagt Kim. „Ich gucke mehr von Tag zu Tag. Wir wollen erstmal sehen, wie es mit den beiden Kleinen klappt. Mit anderen Fragen beschäftige ich mich, wenn es so weit ist.“
Die Mutterrolle ist für die junge Frau ja erstmal auch fordernd genug. Ob sie etwas vermisse in ihrem Leben als so junge Mutter? „Klar habe ich als Mama mehr Verantwortung und muss Sachen hintenanstellen“, sagt Kim. Dann überlegt sie kurz und lacht ihr Jungmädchen-Lachen: „Aber eigentlich wüsste ich gar nicht, worauf ich verzichten muss.“
Ich wüsste gar nicht, worauf ich verzichten muss.