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Eine psychische Erkrankung kann das gesamte Leben durcheinanderbringen. Tagesstruktur ist dann für die Betroffenen ein ganz wesentlicher Stabilisator. Die Graf Recke Stiftung bietet diese Struktur. Im Interview erklären Diana Lechleiter und Heike Lagemann, wie das funktioniert und warum auch die kleinen Erfolge so große Bedeutung haben.

Info

Diana Lechleiter ist Bereichsleiterin Tagesstruktur & Arbeit sowie Leiterin der Praxis für Ergotherapie, Heike Lagemann ist zuständig für Projektentwicklung und Koordination in der Graf Recke Sozialpsychiatrie & Heilpädagogik.

Alle Infos rund um die Angebote aus dem Bereich Tagesstruktur & Arbeit gibt es hier auf der Homepage der Sozialpsychiatrie.

An wen konkret richtet sich das Angebot der Tagesstruktur & Arbeit?

Lechleiter Das sind Menschen mit psychischen Erkrankungen im ganzen Spektrum. Voraussetzung für die Teilnahme an der Tagesstruktur ist, dass diese Erkrankungen chronisch sind und die Betroffenen dem Arbeitsmarkt im Moment nicht zur Verfügung stehen. Das sind nicht nur Menschen, die hier bei uns in Häusern der besonderen Wohnform leben, sondern auch solche, in Wohngemeinschaften oder der eigenen Wohnung im Rahmen des betreuten Wohnens von uns begleitet werden.

Außerhalb der eigenen Häuslichkeit

Lagemann Tagesstruktur gibt es auch im Bereich unserer Heilpädagogik, also für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, im Moment aber nur eine kleine Gruppe in einem unserer Wohnhäuser. Die meisten unserer Leistungsberechtigten dort arbeiten in den Werkstätten für Menschen mit Behinderung.

Gibt es eine Altersbegrenzung?

Lechleiter Bei uns kann man ab 18 Jahren bis ins hohe Alter an der Tagesstruktur teilnehmen, solange es körperlich möglich ist.

Kommen die Menschen zu Ihnen oder gibt es sowas wie Hausbesuche?

Lechleiter Nein, Hausbesuche machen wir nicht. Die Menschen suchen aktiv die Angebote auf dem gesamten Areal an der Grafenberger Allee und in Kaarst auf. Dazu gehören auch Außenaktivitäten, Maßnahmen zur individuellen Förderung besonderer Kompetenzen, etwa in der Medienwerkstatt, und Ergotherapie. Alles findet außerhalb der Häuslichkeit der Leistungsberechtigten statt. Das ist auch Sinn der Tagesstruktur, dass diese am "zweiten Lebensort" stattfindet.

Wie ist der zeitliche Umfang?

Lechleiter Die Tagesstruktur findet an fünf Tagen in der Woche statt, da es sich um eine Routine handeln soll. Im Moment gibt es noch eine Mindestanforderung, die besagt, dass man dreimal die Woche für mindestens zwei Stunden teilnehmen muss. Wir haben die Angebote immer auf drei Stunden festgelegt, um eine Einstiegsphase, eine angemessene „Arbeitsphase“ und einen gemeinsamen Abschluss zu gewährleisten.

Was machen die Teilnehmenden außerhalb der Tagesstruktur?

Lechleiter Arbeiten geht niemand, denn sobald jemand auf dem ersten Arbeitsmarkt tätig ist, ist das Angebot der Tagesstruktur nicht mehr notwendig. Einige machen nebenbei noch etwas Ehrenamtliches. Ansonsten ist es meistens so, dass eine höhere zeitliche Leistungsanforderung nicht funktioniert, weil die Teilnehmenden mit drei oder auch fünf Tagen hier schon so ausgelastet sind.

Inwiefern arbeiten Sie mit den Werkstätten für behinderte Menschen zusammen?

Lechleiter Wenn sich zum Beispiel hier jemand so weit entwickelt hat, dass er sagt, ich interessiere mich für einen Arbeitsplatz in einer Werkstatt, dann unterstützen und vermitteln wir auch. Wir freuen uns natürlich auch immer, wenn wir eine Entwicklung bei den Teilnehmern sehen.

recke:in 3/2024 zum Thema

Unser Unternehmensmagazin recke:in beschäftigt sich in der letzten Ausgabe des Jahres mit dem Thema "Tagesstruktur & Arbeit" in der Graf Recke Sozialpsychiatrie & Heilpädagogik. Das ganze Heft online lesen können Sie hier.

recke:in auf recke-on.de

Welche Erfolgsgeschichten oder besonderen Beispiele für positive Veränderungen bei Teilnehmern können Sie berichten?

Lagemann Ein Erfolg ist es auch, eine Tätigkeit zu finden, die den eigenen Interessen und Fähigkeiten entspricht, zum Beispiel in der Gärtnerei an der frischen Luft zu arbeiten, Gemüse anzubauen, das in der Großküche für das Mittagessen benötigt wird und die Kollegialität. Das ist schon ein großer Gewinn für das Selbstbewusstsein und Stabilität.

Lechleiter Wenn man die Teilnehmenden befragt, ist der für ganz viele sehr kleinschrittig: Stabilität zu haben, regelmäßig zu kommen und Wertschätzung zu erfahren. Viele erzählen, wie chaotisch ihr Leben früher war. Hier eine geregelte Woche zu haben und Menschen zu sehen, die einem wichtig sind, kann schon ein großer Erfolg sein. Es auf den zweiten Arbeitsmarkt zu schaffen oder sogar auf den ersten, geschieht nur in seltenen Fällen. Wenn der Teilnehmende dieses Ziel verfolgt, bieten wir ihm Möglichkeiten zur Vorbereitung auf Teilhabe am Arbeitsleben an. Hierzu bedarf es meist einer intensiven und längeren Vorbereitungsphase.

Lechleiter Wie zum Beispiel Frau Paardekooper. Sie hat ihre Ausbildung als Beiköchin hier absolviert und ist jetzt seit Juli auf dem ersten Arbeitsmarkt. Das hat sie hier mit guter Unterstützung, aber auch sehr viel eigenen Willen und Motivation geschafft.

 

Das Ziel ist also sehr individuell definiert.

Lechleiter Absolut! Kein Ziel gleicht dem anderen. Das macht es auch so schön und spannend, weil jeder seine eigenen Bedürfnisse und Fähigkeiten mitbringt. Wir stellen uns immer wieder neu auf die Menschen ein und gestalten individuelle Wege der Weiterentwicklung, wollen unterstützend und motivierend beistehen und den Menschen helfen, wieder neuen Mut fassen zu können. Dazu gehört, dass wir verlässlich und da sind, und im Gegenzug auch erwarten, dass die Leistungsberechtigten verlässlich sind, pünktlich kommen, nicht einfach gehen, ohne sich abzumelden.

Lagemann In der Tagesstruktur geht es um Durchhaltevermögen, mit Rückschlägen umzugehen, Belastbarkeit und Ausdauer zu steigern. Es gibt Phasen in denen es den Menschen schlechter geht und die trotzdem bewältigt werden müssen.

Wie können interessierte Personen Zugang zu den Angeboten der Graf Recke Stiftung erhalten?

Lechleiter Viele Leistungsberechtigten kommen über Betreuungskräfte von externen Anbietern, zum Beispiel der LVR-Klinik Grafenberg, Institutsambulanzen und niedergelassene Fachärzten.

Lagemann Dann kommt unser Teilhabemanagement ins Spiel. Es erhebt den Unterstützungsbedarf des Leistungsberechtigten: Benötigt er Unterstützung beim Wohnen, in der Tagesstruktur oder für beides? Kostenträger ist der Landschaftsverband Rheinland, LVR. Dort werden die Leistungen beantragt. Der Leistungsberechtigte muss sehr genau sagen, wo er Assistenz benötigt. Das wird digital erfasst und an den LVR übermittelt. Dazu dient das Bedarfsermittlungsinstrument, kurz BEI_NRW.

Lechleiter Die Bedarfsermittlung hat einen festen Ablauf und feste Ziele, womit dann die Leistung beantragt wird. Unsere Aufgabe ist es zu schauen, wie unsere Angebote darauf passen und wie wir unterstützen können. Wenn der Bedarf festgestellt wurde, machen wir so schnell wie möglich einen Termin für ein erstes Gespräch und eine Hospitation. Erst dann können wir Rückmeldung geben, ob das so geht: Schafft die Person das? Was ist ein guter Zeitraum? Wir probieren es eigentlich immer, aber manche müssen sich erst weiter stabilisieren, bevor wir in der Tagesstruktur ein Angebot machen können. Deshalb sind wir froh, dass wir das Teilhabemanagement haben, um das zu sortieren.

 

Gibt es auch Selbstzahler?

Lagemann In der Tagesstruktur nicht. Wohl aber in der Tagesstätte. Da ist das theoretisch möglich, aber sehr selten.

Wie wird die Tagesstruktur von der „Außenwelt“ wahrgenommen?

Lechleiter Unser Spielwarenladen Mathildes Spielekiste und das Café Geistesblitz werden sehr gut von der Außenwelt wahrgenommen und sind immer gut besucht.

Gibt es auch Berührungsängste?

Lechleiter Nicht jeder kann sich vorstellen in Mathildes Spielekiste oder im Café Geistesblitz zu arbeiten, weil der Kundenkontakt eine große Herausforderung ist. Ich bin sehr froh über diejenigen, die sich das zutrauen, weil sie einen wichtigen Beitrag leisten, die Barriere abzubauen. Lagemann Leistungsberechtigte, die nicht mit direktem Kundenkontakt arbeiten, erfahren Identifikation etwa, indem sie etwas produzieren, was von externen Firmen in Auftrag gegeben wird. Beispielsweise Bauteile für einen Automobilzulieferer. Da erfahren die Leistungsberechtigten, dass das, was sie machen, sinnvoll ist und einen wertvollen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten, anerkannt und wertgeschätzt zu werden.

Arbeit ist ein Aspekt der sozialen Teilhabe. Welche Aktivitäten gibt es noch, um Teilhabe zu fördern?

Lechleiter Es finden regelmäßig Festlichkeiten statt, wo wir dann öffentlich zu einladen, sei es der Weihnachtsmarkt oder die regelmäßige Vernissage im Café Geistesblitz. Auch das SPZ lädt öffentlich zu Infoabenden ein, wo jeder teilnehmen darf. Es gibt auch eine Zusammenarbeit mit der Kirchengemeinde, wo wir uns um gemeinsame Projekte kümmern und uns gegenseitig einladen.

Können Sie Beispiele für sinnvolle Alltagshandlungen nennen, die im Rahmen Ihrer Programme weiterentwickelt werden?

Lechleiter Das übernimmt größtenteils die Ergotherapie: Handwerk und Kreativität sind wichtige Bausteine, aber nur einer von ganz vielen. Es geht darum, etwas zu schaffen, meine Gedanken und Sorgen loszulassen und mich auf eine Sache zu konzentrieren. Wichtig ist es auch mit Misserfolg umgehen zu lernen, Fehler zu machen oder mal zu scheitern – das ist völlig in Ordnung. Erfolge werden wertgeschätzt und beispielweise in Form von hergestellten Produkten in Mathildes Spielekiste verkauft.

Es geht darum, etwas zu schaffen, meine Gedanken und Sorgen loszulassen und mich auf eine Sache zu konzentrieren.

Diana Leichleiter

Wie unterstützen Sie die Leistungsberechtigten bei der Bewältigung von Krisen?

Lechleiter Ganz viel geschieht im Gespräch, dass man sich regelmäßig sieht, Situationen gemeinsam bewältigen und unterstützen kann. Einfach da zu sein, reicht manchmal schon. Eigene Ideen können natürlich auch eingebracht werden, denn eigene Motivation ist gut. Manchmal muss es in die richtigen Bahnen gelenkt werden, damit es realisierbar ist.

Wie viele Mitarbeitende arbeiten mit wie vielen Teilnehmern zusammen?

Lechleiter Insgesamt sind es 25 Mitarbeitende und 150 bis 160 Teilnehmende. Die Schlüssel in der Betreuung sind ganz individuell.

Aus welchen Berufsgruppen kommen die Mitarbeitenden, die die Leistungsberechtigten in der Tagesstruktur begleiten? Und was müssen sie für ihre Arbeit mitbringen?

Lechleiter Zum Team gehören Mitarbeitende mit Ergotherapie-Ausbildung, handwerklichen Ausbildungen oder auch dem Studium der sozialen Arbeit. Besonders wertvoll ist die Kombination mehrerer Berufe. Die Mitarbeitenden sollten eine Bereitschaft haben, sich mit Menschen auseinanderzusetzen und sich fortzubilden. Ohne geht es nicht. Der Austausch zwischen den Mitarbeitenden ist natürlich auch Gold wert, da jeder von jedem profitieren kann.

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