Der tägliche Neuanfang

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Sebastian Heiland kümmert sich seit dem Jahreswechsel gemeinsam mit acht Kolleginnen und Kollegen im NETZwerk um Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf. Für den Erzieher eine ebenso herausfordernde wie reizvolle Aufgabe. Fortschritte bei den von FASD betroffenen Kindern zu erleben, das treibe ihn an, sagt er. Was dem 39-Jährigen dabei selbst hilft: Gelassenheit und Humor.

Zum Jahreswechsel hat bei Sebastian Heiland etwas Neues begonnen. Er wollte das so. Nach Jahren der Arbeit im Kindergarten wollte der staatlich anerkannte Erzieher sich anderweitig orientieren. »Ich suchte eine neue Herausforderung«, bekennt er. Und diese hat der 39-Jährige in der Tat gefunden: im NETZwerk, einem intensiven Wohnund Betreuungsangebot der Graf Recke Erziehung & Bildung. Hier fängt er zuweilen sogar täglich neu an – und das hat Gründe.

Das Angebot, das im September 2021 in einem Neubau in Düsseldorf-Wittlaer gestartet ist, richtet sich an Kinder, die von FASD betroffen sind, einer Form der Behinderung, die durch Drogen- oder Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft entstehen kann. Die Kinder zeigten häufig massive Auffälligkeiten, erklärt Fachaufsicht Sandra Scherfenberg. Willkürliche Wutausbrüche seien ebenso an der Tagesordnung wie Schwierigkeiten, Erlerntes zu behalten und umzusetzen. Das Zusammenleben werde dadurch »massiv erschwert«.

Sebastian Heiland war das vor seinem Jobwechsel bewusst, geschreckt hat es ihn nicht. Im Gegenteil: »Ich hatte keine Scheu vor den Kindern«, meint er. »Ich hoffte vielmehr, von ihnen akzeptiert zu werden. Dass sie mich annehmen, so wie wir sie annehmen.« Auch wenn er erst einige Wochen im Einsatz ist, hat er dieses Gefühl längst. Dazu komme ein großartiges Team von insgesamt neun Kolleginnen und Kollegen, die derzeit drei Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren im sogenannten kleinen NETZwerk im Erdgeschoss betreuen. Später soll eine Gruppe für Jugendliche im Stockwerk darüber eingerichtet werden. Im Dachgeschoss werden zwei Apartments zur Verselbstständigung entstehen.

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Das Schöne sei, dass für alle etwas Neues begonnen habe, man gemeinsam etwas aufbaue, meint Sebastian Heiland. »Hier sind wir alle gleich. Und wir fangen uns im Team gegenseitig auf.« Das ist durchaus angebracht. Die Kinder hätten massive Bindungsstörungen, seien zudem auf direkte Bedürfnisbefriedigung aus, erklärt er. »Das Wichtigste sind stahlharte Nerven«, sagt der Erzieher mit einem Lachen. »Hier lernen Gegenstände fliegen.«

Nicht persönlich nehmen

Humor hilft, es ist seine Art, mit immer wiederkehrenden Krisen umzugehen. Denn die Kinder meinten das nicht böse, erklärt er, sie kämen aufgrund ihrer FASD-Störung manchmal einfach aus ihrem Gefühlschaos nicht mehr heraus. Geduld ist laut Heiland daher eine weitere Eigenschaft, die man für die Arbeit mitbringen müsse. »Und man darf das alles nicht persönlich nehmen«, macht die pädagogische Fachkraft klar. Ihm helfe es beispielsweise, sagt Heiland, nach einer Eskalation einen Schritt zurückzutreten und über die Situation nachzudenken, während ein anderes Teammitglied sich des Kindes annehme.

Sicherlich, räumt er ein, diese Aufgabe sei herausfordernd. Warum er sie dennoch gerne annimmt? »Eigentlich sind die Kinder klasse. Sie sind lustig, aufgeweckt, zugewandt.« Bis zur nächsten Krise eben. Das Schöne aber sei, dass man nach wenigen Monaten bereits Fortschritte feststellen könne, und seien diese noch so klein. »Jedes Kind ist individuell, braucht seinen eigenen Umgang«, sagt er. Er knüpfe dabei an die tolle Arbeit der Kolleginnen und Kollegen an, die schon etwas länger dabei seien, »und wir lernen ständig dazu«.

Zudem: Durch den hohen Personalschlüssel könne man ein Kind auch mal rausnehmen für eine Einzelbetreuung. So war Sebastian Heiland etwa mit einem Mädchen aus der Gruppe vor Kurzem zum Schlittschuhlaufen in Ratingen. »Das sind dann die ruhigen Momente, die auch ich genießen kann«, freut er sich. Das sei es, was ihn antreibe – und an der hochintensiven pädagogischen Arbeit begeistert.

Das sind die ruhigen Momente.

Sebastian Heiland

Abzusehen war das nicht unbedingt. Als Kind einer Grundschulrektorin in Düsseldorf aufgewachsen, hatte Heiland zwar von Anfang an mit Kindern zu tun, etwa Schulfeste begleitet, Lose für die Tombola verkauft oder AGs geleitet. Doch wohl gerade aus diesem Grund wollte er sich später abgrenzen, wie er erzählt, machte parallel zum Abitur am Kolleg gleich noch eine Ausbildung zum biologisch-technischen Assistenten; ein Studium schloss sich an: »Ich wollte Paläontologe werden, ich wollte Dinos ausbuddeln«, meint er mit einem Schmunzeln.

Doch nicht nur die Urzeitechsen sind längst tot, das Fach war es seiner Meinung nach auch. »Es war zu leise, man wird einsam in diesem Beruf«, hat Sebastian Heiland bereits an der Uni festgestellt. Und so entschied er sich mit 27 Jahren zu einer Kehrtwende – und ließ sich am St.-Ursula-Berufskolleg in Düsseldorf zum Erzieher ausbilden. Nun also doch wieder Kinder. »Ich bin ein kommunikativer Mensch, brauche Leben um mich«, begründet er seinen damaligen Entschluss. Er wünsche sich Tage, »an denen man nicht weiß, was passieren wird«.

Vorteile des Schichtdienstes

Diese bekommt er jetzt im NETZwerk zweifellos. Dass sie im beruflichen Schichtdienst auch mal 24 Stunden lang sein können, ist für den Erzieher kein Problem. Er empfindet es sogar als angenehm, im Gegenzug freie Tage zu bekommen. Das ermögliche zum einen Pausen, die in der Wohngruppe für beide Seiten von Vorteil sein könnten. Zum anderen könne er privat Dinge erledigen, für die andere Urlaub nehmen müssen, oder Zeit mit seiner Patchwork-Familie und dem Hund verbringen. »Dann ist man nicht so aufs Wochenende fixiert«, findet er. Entspannung findet Sebastian Heiland zudem beim Lesen oder beim Zocken am Computer: »Ich bin mit World of Warcraft aufgewachsen.« Er grinst.

Es ist ein weiterer Anknüpfungspunkt für seine junge Klientel, treffen sich hier doch Lebenswelten. Dass es im Umgang mit Smartphone und Spielekonsole für Kinder Regeln braucht, steht außer Frage. Nach einer Fortbildung, die im Frühjahr beginnen wird, soll der 39-Jährige künftig als Medienbeauftragter agieren. Konflikte sind dennoch programmiert, egal ob ein Kind von FASD betroffen ist oder nicht. Sebastian Heiland weiß das und macht sich dennoch keine Sorgen. »Es ist bei uns eben wie in einer Familie«, beschwichtigt er, »dass man nach einer Krise wieder zusammenfindet«.

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