Den Kreislauf durchbrechen
In Grünau verarbeiten junge Menschen schlimmste Erlebnisse. Die Mitarbeitenden des therapeutischen Fachdienstes helfen ihnen bei der Verarbeitung ihrer Traumata, damit aus einer zerstörten Kindheit kein zerstörtes Leben wird. Dabei dürfen die Therapieprofis sich auch selbst nicht aus dem Blick verlieren.
Die meisten jungen Menschen, die nach Grünau kommen, haben furchtbare Erfahrungen gemacht, sind geschlagen, missbraucht, vernachlässigt worden, wurden teils selbst gewalttätig, sexuell übergriffig. Einige ziehen sich komplett zurück, verletzen sich selbst. Ihre Geschichten erzählen von zerstörten Kindheiten. Daran, dass aus diesen zerstörten Kindheiten nicht zerstörte Leben werden, arbeiten die Pädagoginnen und Pädagogen in den Wohn- und Tagesgruppen in Grünau täglich. Unterstützt werden sie dabei schon seit 1992 von einem gruppenübergreifenden Fachdienst. Fünf der Therapieprofis haben wir zum Gespräch im »Blauen Salon« getroffen, dem Besprechungsraum im Haupthaus der Jugendhilfe Grünau im ländlich gelegenen Bad Salzufler Ortsteil Ehrsen.
Wille und Engagement
Sven Reibold ist seit 2007 Leiter des Fachdienstes. Sein Vorgänger Frieder Morgenstern hat schon Anfang der 1970er-Jahre begonnen, heiltherapeutische, später auch spieltherapeutische und motopädagogische Angebote zu installieren. Mit der Zeit wurde das Angebot immer differenzierter. Die fünf Therapeutinnen und Therapeuten im »Blauen Salon« stehen mit ihrer Fachlichkeit für dieses differenzierte Spektrum:
Anna Steinbach-Klatt, systemische Therapeutin im Fachdienst, kam 2003 nach Grünau. Schon damals habe die Einrichtung als Vorreiterin gegolten, erinnert sie sich. Noch länger dabei ist Delikttherapeutin Kirsten Becker. Sie begann 1990 in der Jugendhilfe Grünau als Pädagogin im Gruppendienst in der ersten Intensivgruppe für schwer traumatisierte Kinder. Traumatisierungen und systemische Einflüsse aus dem Herkunftsumfeld der Kinder seien lange Zeit nicht gesehen oder anerkannt worden. »Heute sagen wir: Wir sehen den Grund, warum du etwas tust.«
Heute sagen wir: Wir sehen den Grund, warum du etwas tust.
Familientherapeut Matthias Guder formuliert es so: »Damals entstand der Gedanke: Warum glaubt mir das Kind nicht, wenn ich ihm sage, du bist ein feiner Typ? Dass das mit einem schwer geschädigten Selbstbild zu tun hat, mit Erfahrungen und Herkunft, das war damals neu.«
Und Motopädagoge Michael Haubrock, seit 46 Jahren in Grünau, erinnert sich gut daran, als Traumatherapie und Supervision in die Jugendhilfe Einzug hielten. »Auf Fortbildung wurde schon damals sehr viel Wert gelegt, wir bekamen von der Leitung viele Flyer in die Fächer gelegt, um uns darauf aufmerksam zu machen, vieles war auch verpflichtend.« Heute vermitteln die Therapeuten ihr Wissen auch intern weiter und ergänzen so sinnhaft das externe Weiterbildungsangebot, auf das die Jugendhilfe Grünau bis heute viel Wert legt.
Wie Kirsten Becker hat auch Michael Haubrock im pädagogischen Gruppendienst begonnen, einige Jahre war er ihr Teamleiter. Beide entschieden sich später für den Wechsel in die therapeutische Arbeit. Heute gestaltet der 64-Jährige die motopädischen und die Sportangebote in Grünau (siehe auch Titelgeschichte der recke:in 1/2023). »Gerade beim Sport zeigen mir die Kinder immer wieder, was sie können. Ich frage dann nach: Ist dir bewusst, was du da gerade geschafft hast?«
Gerade beim Sport zeigen mir die Kinder immer wieder, was sie können.
Die kleinen und großen Erfolge
Wie definiert man Erfolg in Grünau? »Es sind die kleinen Schritte«, sagt Anna Steinbach- Klatt. »Wenn sich ein Kind auf die Stunde freut, ein Interesse hat, etwas zu lernen oder ein Verhalten zu ändern.« »Das Schöne ist, die Ressourcen zu finden«, ergänzt Kirsten Becker. »Mit einem Jungen habe ich eine lange Radtour gemacht. Am Ende lag er total erschöpft im Flur. Heute fährt er bei Radrennen mit.«
Und Kollege Guder, der mit den jungen Menschen an »Regulationsmöglichkeiten für starke Emotionen « arbeitet, beschreibt es so: »Es geht um junge Menschen, die im Alltag getriggert und von Gefühlen geradezu überschwemmt werden. Wenn ein kleiner Junge bislang nur ›vernichten oder vernichtet werden‹ kannte und so auch mit seinen Konflikten und Stimmungsschwankungen umging, wenn dieser Junge dann durch unsere Zusammenarbeit Wege und Zwischenwege findet, das Gespräch sucht oder sich einfach an einen reizarmen Ort begibt, dann ist es für uns ein großer Erfolg.«
Und wenn alle Bemühungen ins Leere laufen und jegliche Therapie versagt? Sven Reibold erinnert sich an einen Jungen, der es in Grünau nicht geschafft hat, seinen Krisen zu entkommen. Natürlich werde dann geschaut, ob es innerhalb der Angebote der Jugendhilfe Grünau andere Möglichkeiten gibt. Aber manchmal helfe nur die Trennung. Die gemeinsame Wegstrecke sei dann zu Ende, beschreibt Matthias Guder. »Wir sind Wegbegleiter von A nach B, und das endet auch irgendwo.«
Wir sind Wegbegleiter von A nach B, und das endet auch irgendwo
Es braucht einen Ausgleich
Auf diesen Wegen gehen die Mitarbeitenden mit den Kindern gemeinsam durch tiefe Abgründe. »Die Dinge, die wir hören, erleben, mitfühlen, das macht schon sehr viel mit einem«, sagt Sven Reibold. Da brauche es im Privaten einen Ausgleich. »Das private Setting ist wichtig. Wie genau jemand etwas verarbeitet, das ist sehr individuell«, so der 52-jährige Diplompsychologe. Er tanke bei seiner Familie auf, sagt er.
Motopädagoge Haubrock macht nicht nur im Rahmen seiner Angebote viel Sport, sondern auch in seiner Freizeit, das ist sein Ausgleich. Über das, was er als Therapeut hört und mitfühlt, sagt er: »Es bleibt hier.« Jeder müsse Wege für sich finden: »Wenn es uns nicht gut geht, kann es den Kindern auch nicht gut gehen.« Familientherapeut Guder bekennt, dass das, was er hier tut, ihn nach wie vor berühre. »Sonst wäre ich hier falsch.« Nur zu nahe gehen dürfe es den Profis nicht. »Sekundäre Traumatisierung« nennen die Grünauer Therapeuten es, wenn die Grenze nicht aufrechterhalten werden kann.
Ein ganz wichtiger Aspekt sei der kollegiale Austausch, sagen alle fünf, nicht nur in den wöchentlichen Fachdienst-Runden. Fachlich, weil »wir in der engen Verbindung mehr schaffen können, wenn wir aus verschiedenen Perspektiven draufschauen«, meint Anna Steinbach-Klatt. Aber auch zwischenmenschlich. Austausch und Vernetzung, aufeinander zu achten, das gehört für die Profis im beruflichen Alltag unbedingt dazu.
Wie können in der engen Verbindung mehr schaffen.
In Grünau wird die Gleichung von der zerstörten Kindheit und dem zerstörten Leben infrage gestellt. »Wenn ich davon ausgehe, dass wir traumatisierte und bindungsgestörte Kinder haben und diese Traumata und Bindungsstörungen von Generation zu Generation weitergegeben werden, dann können wir das unterbrechen«, glaubt Kirsten Becker. »Dadurch gebe ich den Kindern und Jugendlichen die Chance, ihr Leben zu verändern. Wir können den Kreislauf durchbrechen. « Sie hat sexuell grenzverletzende Jugendliche erlebt, die sagen: »Hätte sich jemand das früher angeschaut, hätte ich früher daran arbeiten können, wäre es anders gelaufen.«
Heimat Grünau
Sven Reibolds Erzählung von dem Jungen, der seine Krisen in Grünau nicht überwinden konnte, geht übrigens noch weiter. Der inzwischen 16-Jährige habe sich kürzlich wieder gemeldet, berichtet Sven Reibold. »Er hat einen Ort gefunden, wo er sich entwickeln konnte. Jetzt möchte er noch einmal hierherkommen, zur Verselbstständigung.« Über geeignete Möglichkeiten werde im Moment noch beraten, sagt der Fachdienstleiter.
Die Dinge, die wir hören, erleben, mitfühlen, das macht schon sehr viel mit einem.
Aber eines zeige dies doch: »Auch Prozesse, die vermeintlich nicht ans Ziel gekommen sind, sind ein wichtiger Teil eines Lebens«, sagt Sven Reibold. »Und Grünau war trotzdem – zumindest für eine gewisse Zeit – eine Heimat für diesen Jungen.«
recke:in 1/2024 zum Thema
Unser Unternehmensmagazin recke:in beschäftigt sich in der jüngsten Ausgabe mit dem Jubiläum der Jugendhilfe Grünau. Das ganze Heft zum 175-jährigen Bestehen der Einrichtung der Graf Recke Pädagogik gGmbH in Bad Salzuflen können Sie hier online lesen: