Bedingungslos positiv

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Bislang fielen sie aus allen Systemen der Jugendhilfe. Doch in Kleinstgruppen der Graf Recke Stiftung bekommen junge Menschen eine echte Chance. Für Sila Kol, Steffi Lambertz und Oliver Nickel ist das der entscheidende Antrieb, in der hochintensiven Betreuung tätig zu sein. Dass es kein festes Regelwerk gibt, macht für sie die Aufgabe spannend. Und Erfolge umso wertvoller.

„Verlässlichkeit und Vertrauen“ – diese Begriffe fallen mit Abstand am häufigsten, wenn man sich mit Sila Kol, Steffi Lambertz und Oliver Nickel über ihre Arbeit unterhält. Diese findet in Kleinstgruppen der Graf Recke Stiftung statt, in Duisburg-Marxloh, Leichlingen oder Solingen. Ihr Ziel: Jugendliche und Heranwachsende, die bislang aus allen Systemen der Jugendhilfe fielen, so zu stabilisieren, dass ein Leben in Gemeinschaft möglich wird. Eine Herausforderung, aber eine die sich lohnt, individuell und gesellschaftlich, davon sind alle drei überzeugt. Verlässlich für die jungen Leute da zu sein, sei dabei das wichtigste Kriterium, sagt Sila Kol. „Darauf baut letztlich ihr Vertrauen auf.“

Es ist die zentrale und zugleich schwierigste Aufgabe der so genannten hochintensiven Betreuung, ein Angebot an junge Menschen, deren Leben bislang vor allem von Brüchen geprägt war und die nicht selten als Systemsprenger bezeichnet werden. „Die haben alle ihr Päckchen mitgebracht“, so formuliert es Steffi Lambertz, seit 2021 Teamleiterin in Marxloh. Die aktuell drei betreuten Jugendlichen zwischen 13 und 17 Jahren hätten sich im Leben durchkämpfen müssen „und dabei Verhaltensweisen entwickelt, die von der Gesellschaft so nicht akzeptiert werden“, erläutert die Diplompädagogin. Provokation und Aggressivität gehören beispielsweise dazu, auch Suchtverhalten oder Delinquenz. Nirgendwo galten die jungen Menschen daher als tragbar, sie wurden von Einrichtung zu Einrichtung gereicht.

„Sie können uns nicht vergraulen“

„Die Jugendlichen sind es gewohnt, dass in der Einrichtung eine Erwartung herrscht, die sie nicht erfüllen können“, beschreibt Sila Kol das Dilemma. Aus diesem Grund sorgten sie lieber selber für einen Abbruch, indem sie Grenzen testen – und bewusst überschreiten. „Dann haben sie in irgendeiner Form die Kontrolle.“ Die angehende Erzieherin, seit September 2022 Teil des Teams, hat jedoch schnell erkannt, dass es in der Kleinstgruppe Marxloh anders läuft: „Egal was passiert, wir sind für die Jugendlichen da“, sagt sie. Eine ganz neue Erfahrung für die jungen Menschen. Es sei „eine bedingungslose, positive Wertschätzung, wir halten die Jugendlichen“, beschreibt Teamleiterin Lambertz das Konzept. „Das heißt nicht, dass wir alles gutheißen, was sie machen. Wir wissen ja, dass sie Mist bauen werden. Aber diese Wertschätzung bleibt, egal was passiert, sie können uns nicht vergraulen.“

Egal was passiert, wir sind für die Jugendlichen da.

Sila Kol

Das ist auch für Oliver Nickel der entscheidende Punkt: „Wir halten das aus“, betont der Teamleiter der Kleinstgruppe Leichlingen, der Hochintensiven Betreuung (HiB) Solingen sowie des angeschlossenen Apartments SBW Plus. Wer sich von den derzeit sechs Jungs zwischen 12 und 21 Jahren danebenbenehme, müsse mit Sanktionen rechnen, durchaus auch mit strafrechtlichen. „Aber die Maßnahme ist damit nicht beendet“, macht er klar. Denn: Dass die Bewohner Fehler machen werde, sei absehbar. „Dann reflektieren wir gemeinsam, was wir beim nächsten Mal besser machen können. Und wir fragen: Was brauchst Du an Unterstützung?“

Um an diesen Punkt zu gelangen, müsse man zunächst herausfinden, wie man die Jugendlichen überhaupt erreichen könne, meint Oliver Nickel. Dann gelte es, kleine Ziele zu erarbeiten, Zutrauen aufzubauen. „Ich verstehe unseren Auftrag darin, eine Art Bedienungsanleitung zu entwerfen, um für sie eine realistische Lebensperspektive zu entwickeln.“ Denn der Schnittpunkt bei allen sei, dass sie aus unterschiedlichen Gründen hochtraumatisiert und dadurch bindungs- und beziehungsgestört seien, so Nickel. Am Ende sei es dann nicht immer das Wichtigste, dass sie in die Schule gehen. Über allem stehe, dass es nicht zu weiteren Abbrüchen kommt. Die Folge: „Wenn ich heute mit den Jungs spreche, sagen alle, dass sie zum ersten Mal angekommen sind und sich verstanden fühlen.“

Immer wieder falsch platziert

Es ist zugleich das, was Oliver Nickel antreibt. Vieles hat er, der in Ennepetal groß wurde, in seinem Leben schon gemacht, etwa eine Hotellehre angefangen oder auch Pizza ausgefahren. Über seinen Zivildienst als Rettungssanitäter aber sei er „in die soziale Schiene gerutscht“, wie der 48-Jährige erzählt. Nach seiner Erzieherausbildung folgten Stationen in einem Jugendzentrum, in einem Asylbewerberheim sowie in diversen Regelwohngruppen für Jugendliche, viele Jahre in leitender Funktion. 2014 übernahm Nickel dann die Leitung der damaligen Gruppe Düsselthal der Graf Recke Stiftung für delinquente Jugendliche. Das hat gut funktioniert, doch ihn reize es, Neues zu entwickeln, sagt er, wobei er auch in der Stiftung „immer wieder auf offene Ohren stoße für meine Ideen“, freut er sich.

So war es auch, als es einst um die mögliche Betreuung eines Jugendlichen mit autistischer Veranlagung ging, „der war in der Jugendhilfe immer falsch platziert, es gab viele Abbrüche“, sagt Oliver Nickel. Für diesen habe man damals eigens eine Wohnung in Leverkusen angemietet, sich im Team auf seine Bedürfnisse eingestellt. „Im ersten halben Jahr war er noch jede Nacht weg, seitdem wurde er nicht einmal mehr vermisst, er war er stabilisiert und angekommen“, beschreibt er den Erfolg.

Aus dieser Einzelfallmaßnahme hat sich dann 2019 die Kleinstgruppe in Leichlingen entwickelt, 2024 kamen Solingen und das Apartment zur Verselbständigung dazu. Rund 20 pädagogische Fachkräfte kümmern sich inzwischen um sechs junge Klienten, ein Personalschlüssel der Außenstehende oft erstaunt, „der aber vieles erst möglich macht“, sagt Oliver Nickel. Man müsse über entsprechende Ressourcen verfügen, die Fälle seien sehr komplex. Es könne immer wieder zu Krisen kommen, die auch heftig ausfallen, dessen müsse man sich bewusst sein. Doch die Kolleginnen und Kollegen seien geschult und vorbereitet, etwa durch Deeskalationstrainings und regelmäßige Supervisionen. Es sei der Schlüssel dafür, damit sie sich wohlfühlen. Ein weiterer: „Dass sie sich mit dem System identifizieren und es vor allem selbst mitgestalten können“, sagt der Teamleiter.

Eigene Strategien entwickelt

Sila Kol hat das in den Kleinstgruppe Marxloh genau so erfahren, von Anfang an. Die 26-jährige Kölnerin hatte nach ihrem Abitur als Bundesfreiwillige in einer Offenen Ganztagsschule gearbeitet, danach Sozialpädagogik studiert. Doch im Studium hat ihr, die auch währenddessen immer gearbeitet hatte, „der Praxisbezug gefehlt". Und so entschied sich Sila Kol 2022, am LVR-Berufskolleg Düsseldorf eine praxisintegrierte Ausbildung zur Erzieherin zu beginnen. Ihr Praxisplatz habe sie dann direkt nach Marxloh geführt. „Mir war es egal, ob Regel-, Intensiv- oder Hochintensiv, ich wollte mir vorurteilsfrei ein Bild machen“, sagt sie. „Doch dann habe ich gleich gemerkt: holla die Waldfee!“

Die Arbeit sei für sie eine extrem große Herausforderung gewesen, das räumt Sila Kol offen ein, vor allem, da sie zuvor ja mit Grundschulkindern gearbeitet habe. Die Jugendlichen hingegen hätten sie aufgrund ihres Alters als Freundin wahrgenommen. „In der Zeit des Beziehungsaufbaus war es schwer, sie auf Distanz zu halten, besonders in Krisen“, erinnert sie sich. Mit der Zeit aber hat die angehende Erzieherin ihre eigene Strategie entwickelt. „Hier ist sehr viel situatives Handeln gefragt, es geht oft um Bauchgefühl.

Steffi Lambertz kann das so unterschreiben: „Was wir nicht haben, ist ein festes Regelwerk. Und ganz bewusst wenig Struktur, damit die Jugendlichen das aushalten können“, erläutert die Teamleiterin. In der Folge habe man als Fachkraft viel Freiheit, aber auch Verantwortung. Es gelte, immer wieder, Situationen neu zu bewerten, sagt sie. „Wann bin ich streng, und wann lasse ich alle Fünfe grade sein?“ Und auch, wenn sie der neuen Kollegin einen leichteren Einstieg gewünscht hätte: Es habe sich schnell herausgestellt, „dass Sila auch anspruchsvollen Aufgaben gewachsen ist“, sagt sie anerkennend.

Und in der Tat: Das Kontrastprogramm hatte Sila Kol während ihres Wechselpraktikums in einer Kita erlebt, was Spaß gemacht habe, „was aber für mich vielmehr hochintensiv war“, meint sie mit einem Augenzwinkern. Die 26-Jährige sieht sich in der Kleinstgruppe mittlerweile genau am richtigen Ort. „Weil man sich explizit mit jedem einzelnen Jugendlichen und seiner Thematik auseinandersetzt“, sagt sie. Man könne nicht die Welt retten, das sei klar. „Aber es ist schön, einem jungen Menschen einen Platz zu geben, der bislang keinen hatte.“

Der Versuch, Grenzen zu verschieben

Das sieht auch Steffi Lambertz als die Hauptaufgabe für sich und ihr 16-köpfiges Team auf 11,5 Stellen. Die 45-jährige Diplom-Pädagogin hat 16 Jahre lang in England in einer Einrichtung für Jugendliche mit sexuell grenzverletzendem Verhalten gearbeitet, viele Jahre davon als Leiterin einer Wohngruppe für vier Jugendliche. Und doch seien sie dort „auch an unsere Grenzen gestoßen, wenn diese es nicht geschafft haben, sich an die Regeln und Strukturen der Gruppe anzupassen“. Und genau das sei das Neue, das Spannende an Marxloh: Man versuche hier die Grenzen zu verschieben. „Ich passe meine Erwartungen an die Möglichkeiten an.“

Sicherlich: Es gebe Einzelfälle, in denen „selbst bei uns nicht mehr die richtige Versorgung möglich ist“, macht Steffi Lambertz klar, die forensische Psychiatrie als letzter Ausweg gilt. Bis zu diesem Punkt aber habe jeder eine Chance verdient, findet sie. Das sei ihr Antrieb: „Ich möchte keinen Jugendlichen aufgeben.“

Hochintensive Betreuung

Das Kleinstgruppenangebot der Graf Recke Stiftung richtet sich an junge Menschen mit komplexen Problemstellungen, die mit mangelnder Gruppenfähigkeit, erheblichen sozialen Verhaltensauffälligkeiten und auch selbst- und fremdgefährdenden Verhaltensweisen einhergehen. Der Alltag kann geprägt sein durch häufige Entweichung, Verweigerungshaltung, Provokation und gefährliche Verhaltensweisen. Die Jugendlichen benötigen daher ein hohes Maß an individualisierter Begleitung.

Weitere Infos unter www.graf-recke-jugendhilfe.de

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