An der Grenze zum Krieg
Eine spontane Idee hat die ganze Graf Recke Stiftung bewegt: Nicole Tatura wollte der Not in der Ukraine nicht tatenlos zusehen. Eine Woche später waren drei mit Sachspenden vollgepackte Kleinbusse der Stiftung auf dem Weg. Nicole Tatura selbst saß am Steuer eines der Busse und erlebte an der polnisch-ukrainischen Grenze hautnah die Hilfsbereitschaft und Hoffnung vor Ort, aber auch das Leid der Geflüchteten.
Vergangenes Wochenende hat Nicole Tatura im Schichtdienst fassungslos vor ihrem Smartphone gesessen und die Ereignisse in der Ukraine verfolgt. Und da kam ihr dann der Gedanke, konkret helfen zu wollen.
So berichtet die Mitarbeiterin einer Jugendwohngruppe der Graf Recke Stiftung im Dorotheenviertel Hilden von den Anfängen einer Aktion, deren weitere Entwicklung sie zu diesem Zeitpunkt ganz sicher nicht erahnt hat.
Am Dienstag, so erzählt die 30-Jährige weiter, habe sie die Gelegenheit genutzt, ihren Geschäftsbereichsleiter Michael Mertens anzusprechen, ob die Stiftung sie unterstützen könne – „bevor ich mit meinem kleinen Auto dahin fahre…“ So sei alles ins Rollen gekommen.
Geschäftsbereichsleiter Mertens sagte seiner Mitarbeiterin nach Rücksprache mit Stiftungsvorstand Petra Skodzig zu, dass diese den Kleinbus der Graf Recke Erziehung & Bildung nutzen und auf Stiftungskosten betanken dürfe, um sich auf den Weg Richtung Ukraine zu machen. Er schaltete Stiftungspfarrer Dietmar Redeker ein, der die Spendenaktion gemeinsam mit Nicole Tatura organisierte und eine Liste an benötigten Gütern zusammenstellte. Nachdem der Spendenaufruf am Mittwochnachmittag über verschiedene Kanäle in der Graf Recke Stiftung und der Nachbarschaft verbreitet worden war, hieß es schon am Mittag des nächsten Tages: „Der Transporter ist voll!“
Hilfsaktion weitet sich aus
Zwischenzeitlich hatte sich die Aktion jedoch ausgeweitet. Ein ehrenamtlicher Mitarbeiter des Walter-Kobold-Hauses in Wittlaer erklärte sich angesichts der überbordenden Sachspenden bereit, ebenfalls zu fahren. Kurzerhand stellte Marek Leczycki, Leiter der Pflegeeinrichtungen im Dorotheenviertel Hilden, einen weiteren Kleinbus aus dem Bestand der Graf Recke Wohnen & Pflege zur Verfügung. Außerdem organisierten die Pflegeeinrichtungen über mit ihnen kooperierende Apotheken Verbandsmaterial, Schmerzmittel und Medikamente. Zum Sozialpsychiatrischen Verbund der Stiftung, erzählt Nicole Tatura weiter, habe sie aus ihrer Zeit als FSJlerin noch gute Kontakte. So wurde an der Grafenberger Allee in Düsseldorf, dem Sitz der Graf Recke Sozialpsychiatrie & Heilpädagogik, nicht nur eine dritte Sammelstelle für die Sachspenden eingerichtet, sondern den Helfenden, in Person von Bereichsleiter Henning Rannoch und einem weiteren Kleinbus, eine weitere Transportmöglichkeit zur Verfügung gestellt, um weitere Sachspenden zu einer Sammelstelle nach Berlin zu fahren.
Die beiden anderen Busse starteten ebenfalls am Samstagmorgen und kamen, nach einer kurzen Nacht in Posen, am Sonntag in Chelm nahe der Grenze an. An einer zum Erstaufnahme-Lager umfunktionierten Kirche samt Pfarrgebäude fanden die beiden Fernfahrenden „ein einziges großes Matratzenlager" vor, erzählt Nicole Tatura, die sich per Handy aus Polen meldet. "Die Stimmung dort war gut, es wurde gekocht und viele ehrenamtliche Helfer haben sich gekümmert.“
Als die Spenden auf LKW umgeladen und auf dem Weg in Richtung Ukraine waren, war für die beiden Helfenden aus dem Rheinland Teil eins der Mission erfüllt. Doch sie hatten noch eine weitere: Eine Kollegin aus einer anderen Wohngruppe habe sie gebeten, ihre Angehörige aus der Ukraine mit zurück nach Düsseldorf zu bringen, erklärt Tatura. „Nach 28 Stunden ohne Schlaf und in der Kälte, nach einem langen Fußmarsch" seien die beiden Frauen und drei Kinder glücklich über die Grenze gekommen und mit dem zweiten Fahrer Richtung Westen gefahren. Nicole Tatura selbst will noch vor Ort bleiben, um zu helfen und auf ihrer Rückreise auch noch weitere Flüchtende mit nach Hause nehmen.
Großzügige Geldspenden ermöglichten ihnen die Übernachtungen in Hotels, so Tatura. "Wir haben ja nur eine Person pro Bus, die fährt, wir können uns deshalb nicht abwechseln." Auch die Autobahngebühren habe sie damit bezahlen können. Es sei sogar noch Geld für Tankgutscheine übriggeblieben, die Henning Rannoch bei seiner Ankunft in Berlin an die ukrainischen LKW-Fahrer verteilt habe. Das Benzingeld für die Kleinbusse übernimmt die Graf Recke Stiftung.
Neben der Freude über die große Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit, die Nicole Tatura vor Ort beobachtet, erlebt sie natürlich auch das Leid hautnah. In dem Hotel, in dem sie übernachte, sei sie die einzige Nicht-Ukrainerin, berichtet Nicole Tatura. Die Geflüchteten, die es sich leisten können, haben hier Zimmer genommen. „Tränen fließen überall“, sagt die Stiftungsmitarbeiterin, "unabhängig von finanziellen Mitteln und Milieus“.
Tränen fließen überall.
Bangen um Angehörige
Vor Ort habe sie Nathalia kennengelernt, schreibt Nicole Tatura in einer Nachricht. Die in Polen lebende Ukrainerin organisiere die Übergabe der Hilfsgüter und habe ihr berichtet, wie groß ihre Sorge um die Angehörigen und um ihre Heimat sei. "Nie wüsste sie, ob es nicht das letzte Telefonat mit ihrer Schwester sei, die bei Odessa festsitzt. Sie versuchen fünf, sechs Mal am Tag zu telefonieren, so lange es noch möglich sei. Ständig würden die Telefonate aber unterbrochen, meistens von Bomben und Schüssen."
Nicole Tatura wird spätestens Ende der Woche im Rheinland zurückerwartet. Für die Hilfsaktion habe sie ihre freien Tage genutzt, erklärt sie. Spätestens Samstag müsse sie zu Hause sein. „Montag habe ich ja wieder Dienst, da sollte ich zumindest noch einen Tag Pause machen.“